the long distance howl / ncv / seite #21

Radical Chic und Kommerzkaschperl

Ich hab schon angedeutet daß ich als Boomer keine fundierte Kenntnis der Musikgenres Rap und Hip Hop hab. Ich will davon ausgehen, daß es ein breites Spektrum gibt, welches von poetischen und sozialkritischen Nummern bis zu jenem Männchen-Machismo reicht, der mir so auf die Nerven geht.

Dieses Getue und Gefummel mancher Rapper und Hip Hopper, wie es mir über allerhand Medienkanäle hereinschneit, ist deshalb so lästig, weil ich diese Pose schwer ertrage, wie ein wippender Spießbürger, der die Haare schön hat, mit seinen Klunkern scheppert und sich als coole Sau kostümiert. Ein Spießer ist nicht cool. Nie.



Reyhan Şahin aka Lady Bitch Ray (Foto: Roger Murmann, CC BY 2.0)

Wir komme ich nun zu meiner Einschätzung? Indem ich zum Beispiel eine Frau konsultiere, von der ich annehmen darf, daß sie das Genre sehr gut kennt. Lady Bitch Ray kann einen irritieren, indem sie die prahlerische Attitüde der aufgeblähten Spießer mit deren Sexismus und der ganzen Anmaßung vom Rollenkonzept Mann einfach 1:1 auf einen Entwurf frecher Frauen umlegt. Da kommt man als Kerl erst einmal ins Hüsteln.

Aber Reyhan Şahin, so ihr eigentliche Name, ist überdies Sprachwissenschafterin. Ergo hat sie derlei Kulturgüter untersucht und beschrieben. (Ich find ihren „Bitchsm“ äußerst anregend!) Sie bringt’s für mich auch in genau den größeren Zusammenhang, welchen ich für gegeben halte.

Deshalb vermute ich, daß sogar die Kanaille von Wien, dieser Mörder, auf seinem Weg zu seinem ultimativen Waffengang, in einem (männlichen) Konsens leben und handeln durfte, den er erst durch seine Innenstadtschießerei aufgebrochen hat. Aber die Kerl-Nummer, mit der er sich in der Zeit davor zeigte, ist in unserer Gesellschaft äußerst konsenstauglich.



Sido: Gruseln für Kinder im Pfadfinder-Lager

Reyhan Şahin: „Wir schieben ja ganz gerne diese Sexismen und patriarchalischen Strukturen immer wieder auf den Deutschrap, insbesondere weil der Deutschrap so in den letzten zehn Jahren nochmal migrantisiert wurde und ganz viele Rapper Migrationshintergrund haben, überwiegend Rapper natürlich, Männer. Aber sexistische Strukturen haben wir überall. Wir leben in einem Patriarchat und gewisse Bereiche, wo ich tätig bin, wie zum Beispiel der Hochschulbetrieb, sind nicht nur hochgradig hierarchisch, sondern patriarchalisch, sexistisch – bis hin zu rassistisch.“ [Quelle]

Was ich an kostümierten Spießern sehe, läßt sich an Paul Hartmut „Siggi“ Würdig gut demonstrieren. E formierte aus „super-intelligentes Drogenopfer“ das Akronym „Sido“ und wird von der neuen Bourgeoisie gerne in Anspruch genommen, wenn man Lust verspürt, sich ein wenig beschimpfen zu lassen.

Vor rund einem halben Jahrhundert nannte Autor Tom Wolfe solchen Mumpitz „Radical Chic“, verfaßte überdies ein Buch dazu: „Radical Chic und Mau-Mau bei der Wohlfahrtsbehörde“. Freilich hab ich auch gelacht, als der anmaßende Sido, ganz harter Kerl, seinen Bruder im Geiste, den Herrenmenschen Michael Jeannée bei „Die Große Chance“ vor laufenden Kameras so heftig zusammengefaltet hat, daß der Krone-Kolumnist fast sprachlos war.

Die Krone hängte Sido eine fette Lampe um, attestierte ihm einen „Mix aus Talentlosigkeit, Sexismus und Drogenproblemen“. Der knallharte Sido, nun gar nicht Gangsta, sondern Bürger, klagte wegen übler Nachrede und gewann.

Ich hab den Salon-Outlaw eben in einer skurrilen Show entdeckt. „Horrorcamp: Knossi und Sido“ im Twitch-Kanal von Jens „Knossi“ Knossalla ist eine derart dürftige Klamotte, daß mir dazu überhaupt nichts einfällt. Nichts. Gar nichts.

Das paßt also alles hinten und vorne nicht zusammen. Was letztlich bleibt, ist eine große Klappe, die um Medienpräsenz fleht. In meinem Universum würde jemand mit so einem Angebotsspektrum unweigerlich als Kommerzkaschperl markiert und dem sofortigen Vergessen ausgeliefert werden. Yallah Goodbye!

-- [Pop] [Bourgeoisie]--


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