Der kurze Sommer des Automobils / Seite 46

Die Voiturette

Ich hab im vorigen Eintrag eine Puch Voiturette aus dem Jahr 1904 (Chassis Nr. 61) erwähnt, von deren Existenz ich bisher nichts wußte, und die auch in einschlägigen Publikationen nicht vorkommt.

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Puch Voiturette von 1907

Da England und Frankreich im frühen Automobilismus tonangebende Produzenten hatten, sind etliche Begriffe aus deren Sprachen in die Autowelt eingegangen. Manche der Begriffe kommen aus der Kutschenwelt, wurden zum Beispiel für Karosserieformen von Autos übernommen. Zum Beispiel Berline, Break, Cabriolet, Coupé, Landaulet, Tonneau, Vis a vis…

Der Chauffeur (Heizer) kommt aus dem Französischen wie das Volant (Lenkrad) oder die Voiturette (Wägelchen). Da es kein internationales Büro für allgemeine Begriffsbestimmung gibt, zeigt die Lektüre der alten Quellen eine unterhaltsame Vielfalt in der Anwendung so mancher Begriffe für Details, auch alte Sprachformen, die heute nicht mehr gebräuchlich sind.

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Jacob Lohner & Co: Renn-Karrosserie, Modell Graf Thurn von 1907

So wäre zum Beispiel, was wir heute „Mopedauto" nennen, mit Voiturette durchaus passend angesprochen. Aber was genau ist mit diesem Begriff gemeint? Es heißt, rund um 1902 sei infolge neuer Konstruktionen ein Rückgang motorisierter Dreiräder festzustellen gewesen.

Deshalb kam es im Motorsport zu einer neuen Teilung der Klassen. Für die gemeinsam organisierten Fernfahrt Paris-Wien legten der Automobile-Club de France und der Ö.A.C. (Österreichischer Automobil Club) im Reglement folgende fünf Klassen fest:

+) Motorzweiräder bis 50 Kg
+) Motocycles (Dreiräder) bis 250 Kg
+) Voiturettes bis 400 kg
+) Leichte Wagen bis 650 Kg
+) Wagen bis zu 1.000 Kg


Zu der Zeit liefen noch Debatten über derlei Kategorien, die etwa so daherkamen, wie es Wolfgang Vogel in seiner „Schule des Automobil-Fahrers" von 1902 formulierte. Er schlug zur Einteilung der Kraftfahrzeuge drei Gruppen vor.

+) Motorräder
+) Voiturettes (das sind kleine leichte Wagen)
+) Motorwagen

Vogel meinte, ein „Dreirad mit Benzinmotor gehört selbstverständlich zur ersten der oben angeführten Gruppen." Aber dabei konnte es zu Veränderungen kommen. Vogel führt das unter „Anhänge- und Vorspannwagen" aus. Per angebautem Vorspannwagen mochte ein Threewheeler zum vierrädrigen Vehikel werden.

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Cudell & Co.: Dreirad mit Vorspannwagen

Vogels kuriose Begründung: „Da nun Damen im allgemeinen bei uns nicht Motorrad zu fahren pflegen, mußten die Fabrikanten in anderer Weise Rat schaffen, und sie thaten das durch Konstruktion von Anhänge- und Vorspannwagen." Also bekamen die Damen per Korbsessel eine Mitfahrgelegenheit montiert. (Die Damen fuhren natürlich Fahrrad, Motorrad und Automobil, wo immer ihnen Männer dabei nicht mehr im Weg standen.)

Der Vorspannwagen (Avanttrain) konnte zeitweise aus einem Tricycle ein Quattrocycle machen. Vogel: „Wie rubrizieren wir diese Fahrzeuge?", wenn nun diese Verbindung fix blieb? Die Voiturettes charakterisierte Vogel als „vier-, selten dreirädrig". Er betonte, die Fahrzeuge seien „verhältnismäßig leicht (ca. 6 Centner) und zeichnen sich durch Zierlichkeit aus. Ein Kutschbock ist selten vorhanden. Der Wagen ist gewöhnlich für 2 bis 3 Personen berechnet. Die Maschine besitzt ca. 3-5 Pferdestärken."

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Laurin & Klement: 8/9 HP Voiturette von 1907

Diesen Erörterungen folgend erscheint also der Benz Patentwagen als eine Voiturette, von der ich gerne unermüdlich behaupte, das sei im Grunde ein motorisiertes Fahrrad, also ein verstärkter Threewheeler aus der Welt der Velocipede. Dafür sprechen auch die Drahtspeichenräder, die in manchen Quellen explizit den Voiturettes zugeschrieben werden, während die Motorwagen wesentlich auf Holzfelgen, bald auch Stahlfelgen liefen.


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