Der kurze Sommer des Automobils / Seite 30

Inventar meines Denkens

In Stockerau [link] sah ich eine Replik des Zweiten Marcus-Wagens. Da stand die Wucht dieser außergewöhnlichen Konstruktion vom Ende des 19. Jahrhundert vor mir. Das Original ist im Technischen Museum Wien verwahrt. Der Nachbau in Stockerau stammt aus der HTL Steyr: „Die Baupläne mussten die HTL-Schüler nach einer 3D-Vermessung zeichnen, wobei sie den Siegfried-Marcus-Wagen im Technischen Museum in Wien scannten." [link]

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Replika des Zweiten Marcus-Wagens

Ich hab mir dabei überlegt, ob ich die Aura des Originals vermissen würde. Nein, es machte keinen Unterschied. Ich hab einerseits die konzeptionelle Leistung von Siegfried Marcus bestaunt, andrerseits die Massivität der verbauten Komponenten, bis hin zu einzelnen Schraubenmuttern, mit denen man Teile einer Brücke fixieren könnte.

Was man sieht, ist die erste eigenständige Konstruktion der Menschheitsgeschichte, die jemand der konsequente Umsetzung einer Idee vom „pferdelosen Wagen" widmete, um dabei ein neues Fahrzeug zu entwickeln und nicht -- wie Benz -- ein Fahrrad zu motorisieren oder -- wie Daimler -- eine Kutsche; also schon bestehende Konstruktionen als Geräteträger zu nutzen.

Tags darauf stand ich in Wien vor einem Original, vor jenem Gräf und Stift, in dem Franz Ferdinand mit seiner Frau saß, als Gavro Princip zu schießen begann. Ja, es macht dann doch einen Unterschied, der das Original von einem möglichen Nachbau unterscheidet. Ich hatte mich so oft mit diesen markanten Ereignissen nahe der Lateinerbrücke in Sarajevo befaßt, daß es mich eigentümlich gefesselt hat, vor diesem Originalfahrzeug zu stehen.

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Gräf & Srtift Doppelphaeton (Der Sarajevo-Wagen)

Zugleich blieb mir das alles merkwürdig fern. Ich hatte in der Flanke des Fahrzeuges ein Einschußloch entdeckt, welches ja im Grunde ganz konkret auf den erhobenen Arm von Princip verweist, auf diesen persönlichen Moment des Abfeuerns einer Waffe. Da schien mir, es sei das ganze Gewicht meiner langjährigen Lektüre in Wirkung, hinter der Princip verschwand, indem er darin auftauchte.

Später stand ich unter anderem vor Degen und Offiziersstock des Prinzen Eugen von Savoyen. Diese Dinge haben für mich nicht des Zeug zum Fetisch, sondern erstaunen mich eher als greifbar gewordenes Inventar meines Nachdenkens über einige geschichtliche Zusammenhänge.

Aber auch diese Evidenz erstaunt mich. Wie konnten die Stücke erhalten werden? Wodurch kann man sie dem herausragenden Ausnahmetalent unter Österreichs Feldherren zuordnen? Und auch hier, wie bei Princip, verweisen die Gegenstände auf die leibliche, reale Hand der historischen Figur.

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Prinz Eugen von Savoyen zugeschrieben

Bin ich hier auf Glaubensgegenstände gestoßen? Worauf beruht der Nimbus des Originals? Wir sprechen da im Grunde von Deutungen. Menschen, denen wir Definitionshoheit zubilligen, interpretieren Quellen und Artefakte. Das weist alles zugleich ins völlig Ungreifbare.

Daraus ergibt sich freilich kein Argument gegen die Sammeltätigkeit und gegen die Einrichtung von Museen. Im Gegenteil. Ich bin von diesen Anstrengungen sehr beeindruckt. Es ist genau dieser Effekt des vorhin erwähnten, des greifbar gewordenen Inventars meines Nachdenkens, der in diesen letzten Tagen so stark gewirkt hat.

Genauer, es gibt ein reales „Inventar meines Denkens", wodurch die Zusammenhänge im wahrsten Sinn des Wortes begreifbar werden.

Das Gefühl stellte sich auch ein, als ich einen Sammler besuchen durfte, der mir keine Fotos erlaubte, der auch betonte, ich solle nicht weitertragen, in welchem Ort man seine Sammlung finden könne. Es geht neben den emotionalen Effekten um die konkrete Anschauung von Werken, von Artefakten, in denen sich Denkleistungen und Taten aus vergangener Zeit ausdrücken.

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Steyr RSO (Raupenschlepper Ost)

Da sind übrigens auch die Wirkungen, wenn wir Kunstwerken begegnen. Wie unausrottbar scheinen diese plumpen Fragen, wozu wir das denn bräuchten, die Kunst. Wie töricht diese Wichtigtuerei von Leuten, denen es ein Bedürfnis ist, der Welt mitzuteilen, daß sie Denkleistungen anderer für unerheblich halten.

Wo nun diese Dinge unmerklich auf den Punkt kommen: Wir ruhen auf den Vorleistungen anderer. Wir genießen die Früchte dessen, was andere erdacht, erprobt, realisiert haben. Genau das gelegentlich zu erforschen, zu ergründen, hilft dabei, uns selbst zu begreifen; und zwar in unseren vorteilhaften wie düsteren Momenten, bezüglich unserer besten und miserabelsten Seiten. Das muß einen nicht interessieren. Aber mich interessiert es…

P.S.:
In all dem liegt auch eine von mehreren Antworten auf die Frage: "Warum sammeln?"

-- [Mensch und Maschine] --


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