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Mo, 06.Jun 2016
Sachbücher/Auto/Geschichte/Niederösterreich/Wien/Kritik
"Der kurze Sommer des
Automobils": Die motorisierte Anarchie der 70er
Utl.: Neues Buch als eine Art Revival von
"Wickie, Slime und Paiper"
für Rallyestreifen-Nostalgiker
(Von Edgar Schütz/APA) =
Purkersdorf/Wien (APA) -
"Der kurze Sommer des Automobils": Ein Buchtitel, der wohl nicht zufällig an
Hans Magnus Enzensbergers Roman "Der kurze Sommer der Anarchie" erinnert, der
das Leben und Sterben des Anarchisten Buenaventura Durruti im Spanischen Bürgerkrieg
schildert. Geht es doch um "autobiografische" Erinnerungen an die 1970er, als
ein fahrbarer Untersatz für die Jugend durchaus anarchistische Züge haben konnte.
Die beiden Autoren des neu
erschienenen Buches wissen das ganz genau: Der Historiker und Kulturwissenschafter
Matthias Marschik ist Jahrgang 1957, der Künstler Martin Krusche ein Jahr älter. Sie
waren also in den 1970er Jahren Teenager bzw. in den frühen Zwanzigern und konnten ihre
Sturm-und-Drang-Phase noch weitgehend ungeniert am Volant austoben.
Sozialgeschichtlich lief es in
der Ära von SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky nämlich Krusche und Marschik zufolge so:
"Die Standardbedürfnisse von Wohnen, Essen und Arbeit waren weitgehend befriedigt.
Der Fortschritt hatte in weiten Bereichen der Gesellschaft Einzug gehalten. Waschmaschine,
Eiskasten und selbst der Urlaub an der Adria waren schon zum Mehrheitsprogramm geworden.
Nachdem man nun ein Vierteljahrhundert fleißig gearbeitet und gespart hatte, nachdem die
junge Generation mit den Altvorderen, den Nazis, aber auch den lustfeindlichen 1950er und
1960er Jahren abgerechnet hatte, wollten sich die meisten Menschen wohl ein wenig
Erholung, Genießen und sogar Hedonismus gönnen. Man wollte am Abend fortgehen, aber man
wollte auch mit dem Auto fahren."
Es war die Zeit, in der sich die
Vollmotorisierung Bahn brach: "Zum einen stieg die Zahl der Frauen nicht nur nunter
den Führerscheinbesitzenden, sondern auch der praktisch Fahrenden rapide an, vor allem
durch den Trend zum Zweitauto." Es war die Zeit, in der ein "rosa Deckel"
noch als Nachweis des Erwachsengewordenseins galt, und (vor allem) junge Männer ihr
Selbstwertgefühl beim Gebrauchtwagenhändler aufpolierten.
"Die westliche
Industriegesellschaft", resümieren Krusche und Marschik, "brauchte das Auto
ebenso wie jedes einzelne ihrer Individuen, welches sich über das beziehungsweise sein
Automobil selbstvergewisserte." Jochen Rindt und Niki Lauda waren
Formel-1-Weltmeister, Österreich ein Volk von "Motorsport- und
Autoenthusiasten".
Erste Schrammen bekam dieses
Selbstverständnis durch die Ölkrise 1973, doch war noch ein bisschen Zeit, ehe die
Grünbewegung begann, den Lack vom Mythos Automobil anzukratzen. Aber: "Im Rückblick
aus 40 Jahren wird rasch klar, dass und wie gerade in jener kurzen Phase der scheinbaren
Erfüllung des automobilistischen Traumes, in den technikeuphorischen und autoaffinen
Jahren um 1970, entscheidende Weichen in die falsche Richtung gestellt wurden",
schreiben die Autoren, "Autobahnen zersägten die Landschaft, Städte wurden dem
Automobil angepasst, die Dorfstraße wurde zur 'Verkehrshölle'".
Allerdings lassen die Autoren
keinen Zweifel daran, dass die Erinnerung an die automobilen 1970er für sie eher mit
einem Gefühl der Freiheit, der Selbstbestimmung, und dem Potenzial der Welteroberung
verbunden ist. So porträtieren sie in dem schmalen Buch, dessen Cover wie ein grellbunter
Schulhefteinband aus der Epoche aussieht, unter anderen Modelle wie Toyota Celica, Simca
1000, Citroen DS und 2 CV, Opel Kadett oder die Giulia von Alfa Romeo. Autos eben, die
damals die Runde(n) machten.
Alles Blechdroschken, die meist
längst den Weg zum Schrottplatz angetreten haben, in der Erinnerung mancher heute 50- bis
70-Jährigen aber Jugend-Assoziationen und damit Glückshormone wecken, wie bereits vor 15
Jahren die Clubbings mit "Wickie, Slime und Paiper". Es ist eine Zeitreise in
eine Epoche, in der Rallyestreifen als flott galten und das Gangschalten mitunter noch
eine Herausforderung für echte Kerle war. Denn welcher junge Hipster von heute kann mit
dem Begriff "Zwischengas" noch etwas anfangen...
S E R V I C E - Martin
Krusche/Matthias Marschik: Der kurze Sommer des Automobils - Erinnerungen an die Siebziger
Jahre. Verlag Brüder Hollinek & Co. Purkersdorf, 2016. 144 Seiten, 34,90 Euro. ISBN
978-3-85119-366-4.
(Schluss) ed/sso
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060801 Jun 16