28. Dezember 2024

Dissens-Allergien


Wann haben wir aufgehört, uns mehrheitlich um gute Fragen zu bemühen und einander diese Fragen vorzulegen. um sie zu debattieren? Die letzten Jahre sind ein großes Konzert der Stellungnahmen. Vieles davon mit dürftigen Grundlagen untermauert. (Ariadne von Schirach nennt das Behauptungspornografie.)

So tobt ein Sturm von Behauptungen durch meine Welt, in dem vielfach auch nicht mehr unterschieden wird: Was sind Argumente zur Sache und was Argumente zur Person? Und wie ist mir das nützlich, wenn jemand als einzigen Referenzpunkt für Statements bloß sich selbst hat?


Wo ich zu relevanten Themen auf eine interessante Frage stoße, brauche ich erst einmal die Ansichten von wenigstens drei oder mehr anderen Personen, um meine eigene Vorstellung präzisieren zu können. Das bedeutet zum Beispiel: Bücher. Darunter etliche, bei denen ich manche Seiten zwei, drei mal lesen muß, um zu verstehen, was mir da angeboten wird.

Stimmt! Das nimmt reichlich Zeit in Anspruch, macht schnelle Urteile meist unmöglich. Ich kenne Menschen, die solche Vorgänge gerne mit ein paar YouTube-Videos und mit Zitaten, bunten Memes, abkürzen. Diese Verachtung für die Mühen des Wissenserwerbs finde ich provokant.

Zugleich erscheint es mir sinnlos, das anfechten zu wollen. Solche Prinzen und Prinzessinnen der Kurzfassung von was auch immer haben sich und ihre Strategien meist gut abgesichert; mindestens mit Varianten der „Schuldumkehr“. Wer etwas anzuzweifeln wagt, erfährt dann postwendend, welchen sozialen Schaden er oder sie mit solcher Kritik anrichtet.


Ich gehe heute von getrennten Lagern aus, die sich auf Unvereinbarkeit geeinigt haben. Wie oft hab ich nun über Jahre gehört, dies sei keine Demokratie mehr, die Meinungsfreiheit wäre dahin, wer die „Wahrheit“ sage, müsse Verfolgung hinnehmen... Lauter dummes Geschwätz.

Das sind meist Menschen, denen öffentliche Diskurse recht neu ist und die nicht damit zurechtkommen, wenn sie Einwände hören oder gar im Dissens verbleiben müssen. Wir sind nicht einer Meinung? Okay! Dann können wir einander eben nicht zustimmen. Wo ist nun das Problem?

Dazu kommen ganze Rudel von Leuten mit verdeckten Intentionen. Wie soll man mit denen nicht kollidieren? Doppelbödigkeit beschädigt jede Gemeinschaft, manchmal so lange, bis bloß noch ein Scherbenhaufen übrigbleibt.


Auch das scheint sich zu häufen. Verbrannte Erde im Heimwerker-Stil. Lieber eine Schutthalde, als Dissens zulassen. Das grausame Detail: Dabei genügt es nicht, daß man unterschiedlicher Auffassung ist. Man empfindet als Makel, daß einem nicht zugestimmt wird. Das gibt Ärger! Es scheint fast, als existiere etwas wie Dissens-Allergien.

Selbstverständlich ist das die erste Hausübung zur Tyrannei. Ich staune manchmal, wie sehr gerade jene, die laut für Demokratie und Freiheit eintreten, den Dissens verabscheuen und mit abenteuerlichen Strategien dagegen vorgehen. Ich habe derzeit noch keinen Tau, wie sich für all das wenigstens Nischen einrichten lassen, die gegen solche Trends standhalten und dem Dissens als einer anregenden Kraft Raum geben. Wir werden sehen...

+) Politik

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