8. Juni 2023

Nachschau halten


Es ist wieder einmal Zeit für Inventur. Ich mag dieses Wort. Das lateinische “inventarium” ist die „Gesamtheit des Gefundenen“. Bei meinem nie erloschenen Faible für die Konstruktivisten hänge ich an der Vorstellung von Autopoiese.

Vieles entsteht, weil es möglich ist. Dabei folgt es nicht menschlicher Intentionen, sondern geschieht. Punkt. Ich habe kein Bedürfnis, da eine Gottheit hineinzugeheimnissen, die womöglich uns Menschen sehr ähnlich sieht, bloß weil viele Leute es nicht ertragen können, daß sich etwas ereignet, ohne daß es von einem Wesen gewollt wurde.



Groß träumen... im Kollektiv

Die Gesamtheit des Gefundenen setzt voraus, daß man Nachschau gehalten hat. Eine vermutlich sehr antiquierte Formulierung, die mir überaus gefällt: Nachschau halten, um etwas zu finden, an dem man sich orientieren kann.

Wenn ich mich kurz erinnere, kommt es mir wie ein Spuk vor, der geendet hat und in mir ein merkwürdiges Echo hinterließ. Covid-19 wirkte wie ein Katalysator. Ich staune, wenn ich heute gründlicher nachdenke, was durch die Pandemie an Klarheiten über den Zustand unserer Gesellschaft entstanden ist.

Ich bin selbstverständlich nicht mehr der, der ich davor gewesen bin. Es fühlt sich an, als hätte ich in diesen Jahren sehr konkret Schaden genommen. Das notiere ich hier völlig unaufgeregt, denn ich bin selbst die letzte Instanz meines Lebens.



Links: Selman Trtovac

Beschwerden können an das Salzamt gerichtet werden. (Ist Ihnen diese Metapher vertraut?) Als Protagonist meines Daseins, als Souverän meiner Angelegenheiten, sehe ich mich in der Zuständigkeit, das Mögliche zu verwalten. Niemand sonst kann dafür zuständig sein.

Dazu kommt allerdings, daß ich dem Träumen ähnliche Relevanz gebe wie den Wachzuständen. Nicht als Quelle von Geheimnissen, sondern als anderer Teil des Tages, in dem ich etwas erlebe. Damit wird meine Welt sehr geräumig. Aber auch dort, im Träumen, sind meine Intentionen völlig unerheblich, also wirkungslos. Ich finde vor, was sich ereignet.

Veliki san
Was solches Träumen angeht, bin ich ohnehin kein Neuling. Das muß übrigens nicht bloß eine individuelle Erfahrung sein. Ich erinnere mich an ein sehr schönes Vorhaben: „Veliki san“, der große Traum. Kollektives Träumen mit dem serbischen Künstler Selman Trtovac und seinen Leuten von „Treci Beograd“.


Ein Zitat aus meine Notizen: „Da standen wir dann einander im Morgengrauen gegenüber, zwei leicht derangierte, in die Jahre gekommene Männer. Ich fühlte noch nasse Füße von unbedachten Schritten rund um die alte Mühle und ein physiologisches Defizit von etwa einem Liter Kaffee. Eben hatte ich zu Selman Trtovac gesagt: 'Ich wähle meine Aufgabe selbst.' Selman nickte und versicherte mir, das sei etwa so zu verstehen wie seine Vorstellung von Strategie in der Kunst; und im Leben, wäre zu ergänzen gewesen, aber das war unnötig, weil wir es ohnehin wußten.“

Diese Dinge gegen mir duch den Kopf, während ich meine Zehn-Zwölfer Serie abschließe. Booklets im Web. Networked Interactive Documents. Die Nummer zehn der Zwölfseiter widme ich meinen Lockdown-Indoor-Grabungen, die ich einige Zeit lang gepflegt habe.

Eine Zeit, in der ich jede Woche mit einer Teledrink-Session abschließen mochte, sozusagen eine telematische Sause mit einigen liebenswürdigen Menschen. Ich ziehe es vor, unter all diesen Bedingungen handlungsfähig zu bleiben.

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