4. März 2023

Die Stille und der Zank

Ich geh alle paar Tage hinaus ins Kraut, ins Gestrüpp, über die Wiesen. Ich erkunde die Verläufe von Bächen und erhalte so neue Sichtweisen auf die Stadt, in der ich lebe. Ich brauche viel Stille. Wenn ich mich mit Menschen unterhalte, dann möchte ich erleben, daß es geistreich ist. Sonst brauch ich es nicht.

Ich habe die letzten Jahre allerhand Leute aus meinem Leben oder wenigstens aus meinen Social Media-Kontaktlisten geschmissen, Herzchen, die offenbar nicht anders können, als ihre Umgebung mit Abschätzigkeit und Grobheiten zu bedenken. Ich staune immer noch, wer sich da für mich mitunter als Persona non grata entwickelt hat.


Was nun an Ereignissen hinter mir liegt, hat mich merklich zerzaust. Ich seh mich gerade um. Da sind Tage, in denen mir nicht mehr dauernd Gezeter und Gezänk angeschwemmt wird. Mir ist noch eher unklar, ob es vor allem daran liegt, daß ich zu etlichen Bereichen mehr Abstand genommen habe; oder ob sich die Leute um mich herum gerade etwas beruhigen.

Ich hab mir gestern meine fünfte Corona-Impfung geholt. Das hat simple Gründe. Ich vertraue meinem Hausarzt, dessen Vater schon mein Hausarzt war. Mit ihm kann ich Fragen erörtern, wenn mir etwas unklar ist. Meine Erfahrungen, mit diesen Impfungen durch die jüngere Vergangenheit zu kommen, sind sehr positiv.

Auf diesem Weg hab ich auch Umgang mit Menschen, die ganz andere Positionen einnehmen. Da sind welche, die Impfungen hartnäckig verweigern. Da sind welche, die sich widerwillig impfen ließen, um von manchen Restriktionen nicht betroffen zu werden.

Es schien zu keiner Zeit naheliegend, daß wir einander belehren oder gar bedrängen. Jeder hat seine Gründe. Ich verfolge derzeit Debatten, bei denen oft der Regierung vorgehalten wird, sie habe die „Spaltung der Gesellschaft“ verursacht, verschuldet. Das ist bequem. Zum Glück ist jemand daran schuld, wenn wir mit Dissens und Konflikten nicht zurechtkommen.


Was genau soll denn da „gespalten“ worden sein? Seit ich auf der Welt bin, und das sind bald 70 Jahre, hab ich in Österreich keine Erfahrungen mit einer Art der homogenen Untertanenmasse gemacht. Ich erinnere mich auch nicht, daß es in weltanschaulichen Fragen je einen flächendeckenden Konsens gegeben hätte.

Im Gegenteil! Wir sind die Differenz. Es scheint sehr mühsam zu sein, wenigstens einen grundlegenden Katalog von Konventionen zu sichern, deren Einhaltung längerfristig zu erleben. Nein, wir sind die Praxis des Kontrastes. Man muß dieses Staatsvolk nicht erst spalten, es ist in vielen Auffassungen höchst fragmentiert.

Nicht einmal in sehr grundlegenden Dingen finde ich einen ausreichend breiten gesellschaftlichen Konsens. Wie wäre sonst diese Epidemie an innerfamiliärer Gewalt erklärbar? Die kam nicht erst mit Corona, die ist da, seit ich darüber nachdenke. Weshalb werden in Österreich mehr Frauen als Männer ermordet? Damit haben wir in Europa ein Alleinstellungsmerkmal.


Vor fast 20 Jahren konnte man schon wissen: „Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gewalt die häufigste Todesursache von Frauen zwischen 16 und 44 Jahren und rangiert damit vor Krebs oder Verkehrsunfällen. Und auch wenn Kriege, Umweltkatastrophen und Globalisierung sowohl Männer als auch Frauen in Mitleidenschaft ziehen, die überproportionalen Lasten müssen dennoch die Frauen tragen.“ [Quelle]

Kann mir jemand Belege nennen, daß sich dieser Umstand essenziell geändert hätte? In dieser vorherrschenden Männerkultur führt Differenz leicht zu Gewalttätigkeiten. (Da wissen auch genug Frauen hart mitzumischen.) Wenn man beachtet, was gewichtige Themen in den Social Media an Shitstorms auslösen und mit welch brutaler Sprache da welche obszönen Gewaltphantasien ausgelebt werden, braucht mir niemand was von einer aktuellen „Spaltung der Gesellschaft“ erzählen...