15. Februar 2023

Dissens und so

Ich erlebe oft, daß Debatten so geführt werden, als gäbe es zu Streitfragen unbedingt eine Lösung, die anderen Lösungen überlegen sei. Das wäre eine wichtige Voraussetzung, damit jemand recht behält und jemand eingestehen muß unrecht zu haben. Wir kennen natürlich genug Themen, die sich auf solche Art klären lassen. Zum Beispiel, daß es einen grundlegenden Unterschied ergibt, ob ich mir kaltes oder kochend heißes Wasser über die Finger kippe.

Ich habe aber eine lange Liste von Themen, bei denen ich nie schlüssig geworden bin; sei es in mir selbst, sei es in der Debatte mit anderen Leuten. Pazifismus ist so ein Thema. Das Konzept leuchtet mir ein, aber ich kann mich ihm nicht anschließen.

Sowas führt gelegentlich zu einem Klassiker der Differenz. Der geht so:
A: „Du verstehst mich nicht!“
B: „Ich versteh dich schon, aber ich stimme dir nicht zu,“
A: „Nein, du verstehst mich nicht!“


Da kündigt sich schon die Tyrannei an. Wollte ich mich nur genügend um Verstehen bemühen, dann müßte ich mich doch der Ansicht von A anschließen. Das wäre fast zwingend. (Deshalb hört man in solchen Situationen gelegentlich auch: „Denk doch nach!“)

Die letzten Jahre waren übervoll solcher Kräftespiele. Die Restriktionen rund um die Corona-Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine, die Fragen nach Sanktionen und Waffenlieferungen...

Michel Foucault hat die grundlegende Botschaft in „Überwachen und strafen“ beschrieben. Wer über ausreichende Macht verfügt, wird anderen zurufen: „Bist du ein Vernunftflüchtling oder ein Delinquent?“ Ich übersetze das so: „Bist du schwachsinnig oder ein Verbecher?“ Für beide Varianten liegen Machtmittel bereit. Nach meiner Auffassung hat Macht, wer bevorzugten Zugriff auf Ressourcen und Menschen genießt: Ich nehme mir, was ich haben will. Ich kann Menschen zu Verhaltensänderungen zwingen.

Meiner Erfahrung nach versuchen das auch Menschen in Positionen, die zur Machtlosigkeit tendieren. Ich staune bis heute über so allerhand fadenscheinig aufgestellte Leute, die ihre Interessen mit einer Chuzpe und mit einem Nachdruck verfolgen, daß man es nicht für möglich hält. (Es scheint, daß dieser Modus geradezu ansteckend ist.)

Ich denke, ein wesentliches Kriterium bleibt stets die Qualität des Umgangs mit Dissens. Es hat für mich einige Jahrzehnte gedauert, um dafür ein halbwegs ruhiges Gefühl zu bekommen, daß Dissens prinzipiell etwas Anregendes ist. In Debatten aller Art ergibt das ja für die meisten Menschen einen etwas exotischen Schlußpunkt; nämlich zu sagen: „Gut, da haben wir eben Dissens.“

Die volkstümlichere Version lautet: „Wir sind uns also einig, daß wir uns nicht einig sind.“ Das könnte man mit einiger Heiterkeit aufnehmen. In einer vorherrschenden Männerkultur, die das Konzept des Kaisers und des Priesters hervorgebracht hat, was sich zum Tyrannen verflechten läßt, ist sowas offenbar eine Provokation...