14. November 2022

Trennschärfe


Wenn ich rausgehe, suche ich die Stille. Wenn ich herinnen hin, hab ich die Stille. Das Web als eine Schnittstelle zur Welt. Facebook als mein Salon. Es läßt sich da gut für ein angemessenes Klima sorgen. In meiner Timeline kommt es längst nicht mehr zu diesen Abschätzigkeiten, von denen die Social Media überquellen.

Was aber den Boulevardkram angeht, muß ich mir noch Zeit nehmen, einige Gedanken machen. Tratsch ist etwas Magisches. Im Faible dafür bin ich keine Ausnahme, auch wenn ich neben meiner Deppen-Allergie eine Abneigung gegen Small Talk hab. Aber das Tratschen entlang von Stimmungen, eher frei von Faktenlagen, hat einen Reiz, in dem ich eine wichtige soziale Funktion vermute.


Ich weiß es augenblicklich noch nicht genauer. Vermutlich ist Tratsch Ausdruck einer Strategie, um sich in einer Gemeinschaft hervorzuheben, ohne dafür jedesmal die Mühen inhaltlicher Relevanz aufzubauen. Kein Einwand! Was immer einer Gesellschaft dient, damit sie nicht auseinanderbricht und sich in Feindseligkeiten aufsplittert, halte ich für beachtenswert.

Vielleicht ist Tratsch zum fundierten Gespräch so ungefähr das, was die Operette zur Oper ist. Leichte Muse. Ein völlig legitimes Genre. Das Spektrum reicht dann eben auch zu den billigen Plätzen hin. Da wird nichts formuliert, persönlich mitgeteilt, da gibt es bloß Zitate. Und oft nicht einmal das, sondern ein endloses Rinnsal von Memes.


Ich nehme an, die dürfen wir als Äquivalent der alten Kalendersprüche werten. Ergänzt um all die bedeutungsvoll raunenden Sätzchen an den blanken Stellen von „Readers Digest“, wo einst die Layoutkräfte mit dem Satzspiegel nicht zurechtgekommen sind.

Gut, damals wurde noch aus Quellen zitiert, die genannt waren, die man also unter Umständen nachprüfen konnte. Heute hab ich um mich so allerhand Content Creators, die fälschen Zitate und kreieren Sinnsprüche. Manche darunter reklamieren solches Zeugs sogar unter die Flagge der Kunst.

Ich gebe zu, da gilt die alte Empfehlung aus den Tagen es Dampfradios: Man muß sich nicht aufregen. Wenn mir etwas mißfällt, Sender wechseln, wahlweise abdrehen. Das ist zwar keine kulturpolitische Position von Relevanz, aber ein probater Privatmodus.


Was mich die Social Media gelehrt haben, handelt zum Beispiel davon, daß so manch exponierte Leute des Kunstvölkchens eher nichts zu sagen haben, daher hauptsächlich zitieren oder aber vor allem mit ihren eigenen inneren Zuständen befaßt sind und das als eine Angelegenheit von Welt kostümieren.

Besonders erstaunt bin ich gelegentlich über Leute aus der bildenden Kunst, deren Fotos mir zeigen, daß sie eigentlich keine nennenswerten gestalterischen Kompetenzen haben. Da frag ich mich: wie kommt eigentlich ihr Oeuvre zustande?

Es erreicht mich auch allerhand Geschwätzigkeit, die einen auffallenden Mangel an intellektueller Selbstachtung verrät. Okay. Kann man machen. Aber ich merke erneut, im Kulturbetrieb brauche ich frische Kriterien und mehr Trennschärfe.

+) Die neue Bourgeoisie


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