2. September 2022

Tanaru

Gleich vorweg, das ist der Name eines ausgerotteten Stammes im Amazonasgebiet: Tanaru. Aber selbst wenn ich nicht wüßte, wofür das Wort steht, würde es mir als bloß phonetisches Ereignis gefallen.

Nun also eben erst September. Die perforierten Nächte, die verrutschten Tage, diese Welt voller Unruhe. Und als hätte ich es nicht schon gewußt: wenn man da seine Filter nicht ausreichend hochfährt, geht man leicht verloren. Das reizt mich allerdings manchmal auch, bis an die Grenzen kognitiver Belastung zu gehen, um zu schauen, was dann passiert. (Na, was wird schon passieren? Schlaflos in Gleisdorf. Das passiert.)



(Quelle: ORF)

Ein paar Splitter schwirren hier noch um mich herum. Es bewegt mich, was ich gestern erfahren hab, daß es nämlich einen „einsamsten Menschen der Welt“ gab. Keine literarische Schöpfung, keine Kunstfigur, sondern ein realer Mensch. (Sowas haut mich um.)

Ich kann es gar nicht kommentieren. Ich starre bloß eines dieser Wortquartette an, die derzeit kursieren: „Einsamster Mann der Welt gestorben“. (NZZ)

Das wurde natürlich auch auf dem Boulevard ausgetragen. Dort fand ich jüngst eine ganz andere Botschaft: „Nachfrage nach Kunst ungebrochen“ titelte ein Nebenerwerbs-Genie, um frohe Kunde aus Salzburg zu bringen.


Musiker Sigi Lemmerer kommentierte das bei mir treffend: „Diese Headline besteht aus knapp zwei Zeilen. Somit haben sie einen Subtext und der lautet: ‚Die Nachfrage nach Touristik ist ungebrochen!‘ Eh okay! Nur - Kunst ist etwas völlig anderes!“

Also das alte Problem mit der verbogenen Semantik. Das Bezeichnende sucht sich ein neues Bezeichnetes und wir werden derart auf eine falsche Fährte geschickt. Das bot uns dieser Tage auch ein hochrangiger Politiker Österreichs.

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) zeigte unglaubliche Chuzpe. Nach all den Fehlleistungen und Malversationen, die uns politisches Personal mehrerer Fraktionen in den letzten Jahren zugemutet haben, gibt es naturgemäß ein Ringen um Stabilität.

Daß die ÖVP bei ihrer andauernden politischen Vormachtstellung von ihrer Konkurrenz spürbaren Druck erfährt, liegt in der Natur dieser Sache. Hier kämpfen Interessensgruppen um den Zugriff auf Menschen und andere Ressourcen.



(Quelle: ORF)

Es ist absolut würdelos, wenn Sobotka in diesem Kräftespiel, einem Konkurrenzkampf, einen angeblichen „Vernichtungsfeldzug gegen die ÖVP“ ortet. Diese Sprachregelung spottet seinem Amt und ist das Gegenteil von dem, was man als Ausdruck staatsmännischer Kompetenz deuten könnte.

Solche Art larmoyanter Machtmenschen ist mir mit ihrer Mischung aus Wehleidigkeit und Angriffslust mehr als zuwider. Das ist, nebenbei bemerkt, ein vorzüglicher Beitrag zum zunehmenden Rechtsruck Österreichs. Der Punkt: Wenn man für etwas Banales (Wettstreit um Ressourcen) schon den Maximalbegriff verwendet, haben wir keine Begriffe mehr, um über Schlimmeres zu reden.

Postskriptum
Der Bericht über den Tanaru-Mann hat mich an die bittere Geschichte von Christopher McCandless erinnert, dessen Schicksal Jon Krakauer in ein Buch gefaßt hat, woraus Sean Penn 2007 den Film "Into the Wild" machte.


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