10. August 2022

Sätze im Raum

Ich hatte einige Jahre näher mit Hartmut Skerbisch zu tun. Er kam von der Architektur und hat in der Kunst reüssiert. Von ihm sind mir besonders folgende Worte erinnerlich: „Der Satz muß im Raum bestehen können.“ Satz. In meinem Fall gleichbedeutend mit Text.

Das ist nicht sonderlich rätselhaft. Jeder meiner Gedanken jenseits von Alltagsbewältigung hat einen raumhaften Ort, in dem er sich ereignet. Deshalb hat mir seinerzeit so gut gefallen, daß mir alte Mnemotechniken beispielsweise als „Gedankenpalast“ erklärt wurden. Bevor die Schriftkultur sich durchgesetzt hat, mußten Menschen sehr verschiedene Strategien ersinnen, um Wissen sammeln, bewahren und weitergeben zu können. Dabei waren imaginierte Räume hilfreich.



Hartmut Skerbisch (†)

Also naheliegend, daß ich beim Durchstreifen der weitgehend verlassenen Industrie-Anlage die reale Struktur sofort mit einem Gedankenpalast assoziiert habe. Ein Modus, um in einem Vexierbild spazieren zu gehen. Verschiebe ich den Blickwinkeln bloß wenig, blicke ich auf eine andere Realität. (Ich kann beliebig hin- und herwechseln.)

Architekt Winfried Lechner, der für uns den Zugang zu diesem Objekt arrangiert hat, ist gewissermaßen professionell mit der Bewältigung von Raum befaßt. Doch ein zweiter Gedanke macht klar: Komponistin Germaine Sijstermans natürlich ebenso. Auch wenn es eine Innenwelt geben mag, in der sich Musik ereignet, ab da braucht sie Raum und Atmosphäre, um stattzufinden.



Winfried Lechner (rechts) mit Haushofmeister Severin

Für Künstler Joachim Eckl ist das Pendeln zwischen unterschiedlichen Raumkonzepten offenbar Standard. Über Künstler Marcus Kaiser hatte ich schon erfahren, daß er nicht bloß Cello spielt (ein Ereignis im Raum!), sondern auch konzeptionell so unterwegs ist, daß manches Werk sich in einer bestimmten Kubatur einlöst. Eckl sagt dazu: „Vivarium!“ Er hat gegrinst, als ich einige Einladungskarten durchsah und Kaiser übern Tisch hinweg zurief: „Du bist schon merkwürdig!“

Auf einer Karte stand nämlich „Großes Grünes Bild (2014-2018)“. Das war noch nicht verwunderlich und ebenso plausibel: „Pigmenttusche, Bleistift, Aquarellfarbe auf Papier“. Aber dann kam es: „152 x 278 cm“. Eckl setzte nach: „Ach, jetzt wird grade eines mit fünf Metern.“ Naja, das finde ich überaus merkwürdig. „Das ist bei Dir was Obsessives, hm?“ fragte ich Kaiser beim Abschied. Er stimmte zu.

Sätze, die im Raum bestehen. Gedanken, die sich manifestieren. Das symbolische Denken, wenn es sich in greifbare Formen überträgt. Aber auch die Raumüberwindung. Zum Beispiel als individuelle Mobilität. Und dann natürlich die Assoziation mit Thomas Hobbes.


Es mag in Fragen der Regionalentwicklung problematisch erscheinen, daß diese Textilfabrik liquidiert wurde und nur die Hülle blieb. Zur Erinnerung: Es begann 1789, als Graf Karl Batthyány (Herrschaft Burgau) die Aufgaben eines österreichischen Diplomaten in England erledigte und daher von den neuen Anwendungsbereichen jener Dampfmaschinen wußte, die James Watt optimiert hatte.

Es war recht teuer, eine Spinnmaschine und zwei Strickmaschinen nach Wien schmuggeln zu lassen. So kamen schließlich Wirkungen der Ersten Industrielle Revolution nach Neudau. Mit der Digitalen Revolution ereignete sich die Dritte Industrielle Revolution, die nun ihrerseits längst in etwas umgebrochen ist, das uns noch nicht klar vor Augen steht. (Nächste Automatisierungswelle, selbstlernende Systeme etc.) Gesamt betrachtet ist es also sehr schlüssig, daß der alte Leviathan, milde geworden ist, unschlüssig, was aus ihm werden soll, denn da hat etwas Epochales geendet.

+) Der milde Levithan


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