9. Juni 2022

Sommerliches

Ist das nun Sommer? Und wonach genau fühlt sich das alles an? Mein Büro ist mir Höhle und Festung. Soweit es mir erträglich bleibt, geh ich unter Menschen, was mir einiges Vergnügen bereitet, weil ich ohnehin all jene meide, deren bloßer Anblick mich schon ermüdet. Ich bevorzuge die Geistreichen.

Ich habe keinen Zweifel, daß wir uns längst in einem freien Fall befinden, der in andere Zustände führt. Bremsen? Lustig! Wer jetzt beharrt oder gar zurück will, schlägt sich bloß wund und ist allen anderen eine Bürde, deren Neugier größer ist als die Furcht.


Das teilen wir doch alle. Wer ist derzeit ohne Furcht? Meine Neugier gilt all jenen, die nicht von alten Verhältnissen träumen, sondern diese anderen Zustände spüren möchten. Ich erlebe das als fast schon verstörendes Kräftespiel.

Es hat eine wuchtige Intensität und verbraucht meine Energie durch armdicke Kanäle, so daß ich wenigstens ein Drittel vom Tag und von dem aufgeben muß, wie ich früher in vertrauter Weise Dinge getan hab. Ich nehme an, wir müssen alle unsere Kräfteverhälnisse neu kalibrieren.

Es wäre bloß beunruhigend, wenn es sich nach einem ergebnislosen Ausbrennen anfühlen würde. So ist es aber nicht. Da entfaltet sich ein Tätigsein, das irritierend in die Tiefe reicht. Jeder Tag sickert wie ein Sediment auf neuem Grund und formt langsam eine – wie mir scheint – tragfähige Schicht, auf der sich gehen läßt.

Da sind keine Gewißheiten. Keine Wegweiser. Meine Landkarten bleiben leer. Vielleicht ist das etwas Verläßliches. Man könnte sagen: Übergangskarten, weil kein Weg zurück führt, irgendwo zurück, ganz egal. Es sind lose Blätter, die erst neu beschriftet werden müssen, die zu nächsten Landkarten der Bedeutungen werden könnten. Wir werden sehn…

Ich hab dieser Tage Zeit mit ein paar alten Männern verbracht, die auf etwas zurückblicken. In sehr berührender Weise habe ich einen über jene Ära sagen gehört: „Es ist vorbei.“ Sein Blick während dieser Worte ist mir präsent geblieben. Darin mag eine Spur Traurigkeit gewesen sein, aber auch etwas von „sich zurücknehmen“, weil daran nichts falsch ist.


Ich mag dieses Bild: Jemand muß das Licht ausmachen. Jemand muß die Tür schließen. Ich weiß je selbst nicht, ob das nun ein Zurückbleiben bedeutet oder ein Fortgehen. Genau das ist in den Umbrüchen so ungewiß. Genau diese Ungewißheit ist kostbar.

Vielleicht geht es einfach darum, vorerst etwas zu verweilen, langsamer zu atmen und zu lauschen. Der große Vorteil des späten Lebensabschnittes liegt darin, daß nichts Bestimmtes mehr werden muß. Selbst wenn alles enden sollte, war es so viel. Ich hab keine Ahnung, wie die Jungen das derzeit schultern.

Aber da es uns als Spezies seit wenigstens 300.000 Jahren gibt, vielleicht wiederholt sich genau diese Irritation ohnehin seit jeher von Generation zu Generation. Was mir für die Kunst gilt, das gilt auch fürs Leben: Es ist ein Ringen um Qualität und Vollendung.

Dann wären da noch einige banalere Dinge. Wie Franz letztens sagte: „Wir werden ja so alt.“ Das war nämlich über tausende Jahre nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Franz: „Wir werden so alt, daß wir noch erleben, wie alles wieder beschissener wird.“ Was hab ich gelacht! Das ist wirklich zu komisch; zumal es ja an uns liegt…


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