22. März 2022
Pro Putin in
Gleisdorf
Ich hab gar nicht erst fragen
müssen, das Konzept hat sich mir aufgedrängt. Er ist ein
Mann meiner Generation, der sogar mitten auf dem Hauptplatz
ansatzlos sehr laut werden kann, wenn man seinen Ansichten
nicht zustimmt. Mir sind von ihm keinerlei Meriten bekannt.
Sein größtes Verdienst ist wohl die Abstammung aus einer
Familie, welche er über Jahrhunderte zurück nachweisen kann.
Wir plauderten erst entspannt und ich meinte dabei, es
stünde außer Streit: a) Der Überfall auf die Ukraine ist
ein Bruch des Völkerrechtes und b) wenn reguläre Truppen
Nichtkombattanten und zivile Ziele angreifen, reden wir von
Kriegsverbrechen. Der Mann widersprach energisch.
Ad
a) solle ich auf das Völkerrecht scheißen, das sei nichts
wert, das hätten die Amerikaner schon oft genug gebrochen,
ohne daß wir einen der US-Präsidenten nach Den Haag
geschafft hätten. Aha! Werden Gesetze gebrochen, ignorieren
wir sie fortan.
Ad b) schauen wir erst einmal, was Ukrainer im Donbass
angerichtet hätten. Aha. Das sind zwar nun andere Themen,
aber… Oh! Putin hat doch 2001 im Deutschen Bundestag diese
berührende Rede gehalten. Ja, hat er. Und wenn es von ihm
genau so gemeint war, prima! Die Rede kann man hier
nachlesen: „Wortprotokoll der Rede Wladimir Putins im
Deutschen Bundestag am 25.09.2001“ [Link].
Doch wir haben nun 2022. Ich machte geltend, Putin sei
heute der Boss eines Netzwerks sehr reicher Leute, deren
Vermögen darauf beruht, daß sie ein großes Volk
ausgeplündert haben. Was die Bodenschätze des Landes
hergeben und was weit mehr als 140 Millionen Menschen
erwirtschaften, ist seit Putins Rede in Berlin auffallend
nicht in die Infrastruktur des Landes, in die Modernisierung
seiner Industrie, in das russische Bildungssystem etc.
investiert worden. (Immerhin sind die großen Yachten ja
keinesfalls billig.)
Relativierung und
Antisemitismus Nun wurde ich belehrt, daß Putin
provoziert worden sei und eigentlich Amerika hinter all dem
stecke; "wie schon 1914". Oh! Interessant. Dann höre ich von
einem Juden, der über die „Erfindung des jüdischen Volkes“
geschrieben habe. Mehr noch – aufgepaßt – der ukrainische
Präsident Wolodymyr Selenskyj entstamme angeblich jenem
Volk, aus dem man einst „die Juden“ gemacht habe.
Aha, Selenskyj also - genau genommen - ein Jude, der Putin
aus niederen Motiven schlecht dastehen läßt. Ich hab das
einfach bisher nicht bemerkt. Nun wandte ich ein, daß Ethnos
keine biologische, sondern eine kulturelle Kategorie sei.
Die Ethnie entsteht durch ihre Lebensweisen, durch soziale
und kulturelle Normen, Alltagsgewohnheiten etc. Ergo sei
jedes Volk eine kulturelle Konstruktion. Man könnte auch
sagen, ausnahmslos jede Ethnie sei „als Volk gemacht
worden“. (Das ist gar nicht anders möglich.)
Bis
dahin hatte sich mein Gegenüber noch nicht explizit pro
Putin ausgesprochen, aber jeden Ansatz, den aktuellen
Überfall auf die Ukraine zu ächten, beiseite geschoben.
Allerdings waren nun a) antisemitische Motive und b) ein Haß
auf die USA unüberhörbar. Allerdings höflich vorgetragen:
„…und, Entschuldigung!, ein Jude…“
Whataboutism Ich meinte dann:
„Völkerrechtsverletzungen der USA, amerikanische
Kriegsverbrechen und die Mißachtung der Menschenrechte sowie
allerhand Folterskandale und verdeckte Aktionen sind
evident. Das ist unbestritten. Es gibt sogar Spielfilme, die
das thematisieren. Aber das ist hier im Moment nicht mein
Thema.“
Das hätten – so hörte ich - die Amerikaner ja
schon gemacht, als sie in den Ersten Weltkrieg eintraten,
nämlich ihre Kolonialpolitik umgesetzt. „Mit dem Ziel, die
europäischen Dynastien zu stürzen“, meinte mein streitbares
Gegenüber. Tatsächlich? „Ja. Das habe ich bei Clark so
gelesen.“
Christopher Clark’s „Die Schlafwandler –
Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ steht auch in meiner
Bibliothek. Und zwar nahe beim Standardwerk von Manfried
Rauchensteiner: „Der Erste Weltkrieg und das Ende des
Habsburger Reiches“.
„Der taumelnde Kontinent“ von
Philipp Blom kann ebenfalls zur Lektüre empfohlen werden und
natürlich Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“. Unsere
Dynastien haben es ganz ohne die USA geschafft, den Bach
runterzugehen. Man kann es da nachlesen.
Aber die
„Alternative Facts“ sind so romantisch! Es müssen verkappte
Amerikaner gewesen sein, die Lenin in einem versiegelten Zug
aus der Schweiz nach Rußland brachten, um eine Revolution zu
triggern, von der die Romanows weggewischt würden. (Das hat
ja geklappt.) Es waren sicher auch verkappte Amerikaner, die
sich in Wien einschlichen, um aus unserem Kaiser Franz Josef
jenen untauglichen Regenten zu machen, als der er das Haus
Österreich versenkte.
Es waren bestimmt ebenso
verkappte Amerikaner, die den Hohenzollern Willem Zwo
verleiteten, das Deutsche Reich in den Untergang zu führen.
Und wenn es so nicht war, dann hatten doch bestimmt
irgendwelche Juden damit zu tun. Steht ja alles in den
Büchern. Nein, steht da nicht! Aber man kann sich die Welt
so zurechtreden. Solches „Wissen“ tobt sich dann auch auf
Gleisdorfs Straßen aus…
+)
Asien
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