19. März 2022

Soziokultureller Kameradschaftsbund

Tag 24 des Krieges. Gut. Ich versteh das. Wenn einen Situationen überfordern, wird man zusammenkramen, was man grade noch zur Verfügung hat. Falls das nicht reicht, kann man auch noch ins Irrationale überwechseln, um sich als handlungsfähig zu erleben.

Wenn mir nun angesichts Putins verbrecherischer Kampagne ein Teenager die Heucheleien und Verbrechen von Nato-Kräften referiert, denke ich mir: Fein! Denkt mit. Eignet sich seine Welt an. Und ich gehe davon aus, daß die Deutung des Status quo dann schon noch gedeiht, vorankommt, mir eine Ansicht des Big Pictures liefern wird. Da beginnt man eben irgendwo. Die Fehlleistungen bis Verbrechen der Nato sind evident, sind aufgearbeitet. Da läßt sich ansetzen.


Selbst Putin und Xi Jingping haben uns diese Inhalte schon vorgetragen, westliche Formationen zu Recht der Heuchelei bezichtigt und uns überdies wissen lassen, was sie von unserem Konzept einer Demokratie halten. (Siehe dazu als Beispiel das „Dokument 9“, ein internes Strategiepapier der Kommunistischen Partei Chinas: China File!)

Wenn mir aber Leute meines Alters derlei vortragen, zugleich über Putin nobel schweigen, darf ich annehmen: da hat jemand die letzten Jahrzehnte geschnarcht oder gönnt sich verdeckte Intentionen. Ost-West. Nato-Putin. Als Kinder hörten wir unsere Leute „Die Gelbe Gefahr“ beschwören, was damals Mao meinte. (Der war ja gegen Xi Jingping ein ziemlich uninteressanter Patriarch.)

Welchen Erklärungsbedarf hätte ich nun noch, weil mir nicht schon amerikanisches Kino wesentliche Kritikpunkte erläutern konnte? Denken Sie etwa an „Zero Dark Thirty“ (2012) von Kathryn Bigelow. Woher kenne ich wohl den Begriff Gitmo? Nicht aus meinem Alltag. Aus dem Kinosaal. Etwa bei Jodie Foster, unvergeßlich in „The Mauritanian“ (2021) von Kevin Macdonald.

Ich mag - angesichts von Kriegsverbrechen und den Ambitionen von Usurpatoren - diese Schreckensbilder nicht mehr nach Ost- und West-Zuordnungen sortieren. Der ideologische Mantel solcher Kanaillen erscheint mir völlig nachrangig gegenüber dem Umstand, daß sich hier mit unterschiedlichen Bewaffnungen (sowie in allerhand Masken und Posen) eine vorherrschende Männerkultur ausdrückt, mitteilt.

Egal, auf welchem Kontinent sich War Lords und Präsidenten in Kriegsverbrechen hervortun, Folter akzeptieren, sexualisierte Gewalt gegen Frauen als Kampfmittel gegen Männer billigen, egal wie ich es drehe und wende, es ist diese Männerkultur.

Ich muß über Putin nicht angestrengt nachdenken. Ich muß ihn nicht per Ferndiagnose pathologisieren, was sowieso fachlicher Mumpitz ist. Ich muß ihn nicht dämonisieren, was ein weiterer Beitrag zu dieser problematischen Seite der Männerkultur wäre.

Es ist mir kein Rätsel an diesem Russen, der schon als Kind ein Denunziant gewesen ist, um sich dem System anzudienen und aufzusteigen. Ein Machtpragmatiker. Der Frontmann einer Kleptokratie, dessen Kamarilla ein riesiges Volk ausplündert, was sich uns gerade symbolhaft über beschlagnahmte Luxusyachten von Oligarchen auf allerhand Weltmeeren erhellt.

Für mich steht außer Frage, daß innenpolitische Probleme Putins ein wesentlicher Grund für den Krieg gegen die Ukraine lieferten. Vergessen Sie nicht einen weiteren Hauptgrund für Kriege. Das Verbrennen überzähliger junger Männer, die zu Hause keine Aufstiegs-Chancen haben, weil es die Wirtschaft des Landes nicht hergibt. Jedes Regime muß unruhige, aufstrebende junge Männer entweder gut beschäftigten oder abfackeln, um nicht auf einer innerpolitischen Bombe zu hocken.

Aber ich versteh schon, wenn einen die aktuelle Komplexität am Zustand Europas überfordert, liegt ein Ausweg im Reproduzieren alter Bilder. Es läuft dann auf eine Art des soziokulturellen Kameradschaftsbundes hinaus. Das korrespondiert zufriedenstellend mit dem Obskurantismus, der sich hier anscheinend ungebremst unter Teilen meines Kulturvölkchens breit macht.

+) Asien


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