13. März 2022
Das Pubertäts-Paradox
Ich finde es
sympathisch, wenn jemand sagt: „Ich bin Anarchistin.“
Das bedeutet ja, dem Wortsinn entsprechend: „Ich möchte,
daß niemand herrscht!“ Daraus ziehe ich den Schluß,
jemand lehnt Autoritäten ab und bewährt sich darin, selbst
ganz konkret Verantwortung für das Gedeihen eines
Gemeinwesens zu übernehmen.
Ein reifer Charakter,
selbstbewußt, mit einer klaren Vorstellung, welche Balance
zwischen Eigennutz und Gemeinwohl grade erstrebenswert sei.
Ich bin nicht naiv. Sowas muß eher ein Fließgleichgewicht
sein, keine fixe, also starre Anordnung. Man wird - je nach
Situation und individueller Verfassung – diese Balance
zwischen Eigennutz und Gemeinwohl oft unterschiedlich
gewichten.
Da aber Gesellschaft ein extrem dynamisches Phänomen ist,
sollte sich das jederzeit vorteilhaft entfalten und
kombinieren lassen: meine Eigenverantwortung und die der
anderen Leute. Soweit die Skizze des Idealtypischen.
Inzwischen mußt ich mir das Lachen schon verkneifen, denn
ich finde das ja nicht einmal in meinem nächsten Umfeld;
nicht einmal dann, wenn wir in einem gemeinsamen Vorhaben
klare Abmachungen getroffen haben.
Und selbst wenn
etwas gelungen ist, zeigt der Rückblick am Ende oft: Oh!
Hier hat jemand auf Kosten anderer expandiert. Da ist jemand
auf dem Trittbrett einfach mitgefahren. Hier wurde der
Teamgeist beschworen, aber da macht einer plötzlich vor
Publikum den Primgeiger.
Besonders scharf finde ich
jene Herzchen, denen wir „Das Pubertäts-Paradox Erwachsener“
verdanken. Ihnen bedeutet Anarchismus genau nicht „Niemand
soll herrschen!“, sondern „Niemand soll über mich
herrschen!“
Schaue ich solchen rebellischen Wesen
eine Weile zu, sehe ich diese poetische Annahme bestätigt,
wonach wir Menschen zwei herausragenden Grundbedürfnisse
haben: den Wunsch nach Autonomie und den nach Zugehörigkeit.
Das wirkt bloß auf den ersten Blick etwas paradox, ist es
aber nicht.
Nomos ist das altgriechische Wort für Gesetz. Autonomie
heißt: ich gebe mir selbst die Regeln. Das ginge gut mit
Anarchie zusammen: niemand soll herrschen! Und weil der
Mensch laut Aristoteles ein Zoon politikon ist, ein
Lebewesen, das ein Leben in Gemeinschaft bevorzugt, wäre das
alles gut kombinierbar.
Weil nun niemand herrschen
soll, weder über mich, noch über andere, wähle ich im
Gemeinwesen selbstbestimmt (autonom) Aufgaben, zeige
Verantwortung für dieses Gemeinwesen, das meine
individuellen Möglichkeiten sichert und erweitert.
Wer es nicht weiß, kann es nachlesen: Mindestens seit der
Steinzeit sind uns menschliche Lebensweisen einigermaßen
geläufig, weil aufschlußreich rekonstruierbar. Die
Hauptsorge im Alltag war a) Nahrungsbeschaffung und b)
Schutz vor Kälte, weil das Zittern im Frost enorme
Kalorienmengen verbrennt, was die Nahrungsbeschaffung
beeinflußt.
Als Frau mit einem Neugeborenen war
man unbedingt auf das Rudel angewiesen. Der Säugling war
folglich nicht bloß Sache der Mutter, sondern der
Gemeinschaft. Krank oder verletzt? Alt? Ohne das Rudel war
man schnell am Ende.
Ab dem Neolithikum kam eine neue
Form der Gewalttätigkeit in der Menschheit auf (Neolithische
Massaker) und man mußte feindliche Übergriffe fürchten wie
nie zuvor. Also wieder: das Rudel. Vor solchen Hintergründen
trage ich dieses Bonmot weiter: „Wenn jemand auf seinen
Rechten besteht, aber Verantwortung ablehnt, nennen wir das
nicht Freiheit, sondern Pubertät.“
+) Kunst &
Gegenwart:
Das
Wagnis des Zwischenraums
Postskriptchen
Aus einem Unterhaltungsroman habe ich folgende Überlegung
bezogen: Der Sklave träumt nicht davon frei zu sein, er
träumt davon Herr zu sein.
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