21. Dezember 2021

Angriffslust und Contenance

Ich kann mich sehr gut erinnern, wie es um mich herum einmal breiten Konsens gab, daß Antwortvielfalt ein wesentliches Element pluralistischer Gesellschaften sei, daß wir uns um eine Praxis des Kontrastes bemühen sollten, wo es um die Arbeit am ganzen Leben gehe.

Wo sind wir falsch abgebogen, daß sich Konfrontationen derzeit so hart entfalten? Oder sind das Zyklen? Konjunkturen? Womöglich müssen wir uns laufend neu verständigen, welche Qualitäten uns unverzichtbar erscheinen und was das in der Praxis bedeutet.


Mir scheint, diese enorme Dynamik hat sehr viel damit zu tun, daß wir erstens seit rund 200 Jahren in einer permanente technischen Revolution leben und zweitens heute eine Mediensituation haben, die sich schneller durchsetzen, etablieren konnte, als wir Zeit fanden, um adäquate Medienkompetenzen zu erwerben.

Diese permanente Beschleunigung in fast allen Lebensbereichen ist ja niemandem verborgen geblieben, zumal uns laufend Beschleunigungsopfer um die Ohren fliegen. Innerhalb meines bisherigen Lebens gab es zwei fundamentale industrielle Revolutionen. Jede davon hat unserer Gesellschaft weitreichende Paradigmenwechsel aufgezwungen.

Zugleich stoße ich mich an einer Verschnöselung, die offenbar keinen Lebensbereich auslassen will. Damit meine ich etwa, daß ich ein Bildungsbürgertum, welches längst die Bildung aufgegeben hat, in immer mehr wesentlichen Positionen sehe.


Vor 30 Jahren war für mich noch deutlich, daß ich in der Kooperation mit einem gebildeten Konservativen mehr bewegen kann als mit einem goscherten Linken. Und jetzt? Jetzt muß ich mich rüsten, mit Proviant versorgen und auf Expedition gehen, um einen gleichermaßen sachkundigen, klugen und couragierten Funktionär, wahlweise eine Funktionärin, zu finden, mindestens in der Lage, eine geistreiche Debatte über 30 Minuten durchzustehen.

Naja, ganz so schlimm ist es nicht, aber ziemlich. Ich denke, es ist hauptsächlich individuelle Unsicherheit, die Leute angriffslustig werden läßt. Darin rettet einen schließlich kein Sendungsbewußtsein. (Contenance könnte eher helfen.)

Ich hatte letzte Nacht ein ausgedehntes telematisches Plauderstündchen mit einer erklärten Impfgegnerin, die sich an den Gleisdorfer Demos erfreut. Ob wir einander was beibringen konnten? Darum ging es gar nicht!

Hier erneut jene besondere Stelle aus „Krusches Handbüchlein bewährter Mantras“, die Passage mit der türkischen Künstlerin, welche mir vom ermordeten kurdischen Publizisten Hrant Dink erzählt hat; was dem wichtig gewesen ist: „Reden, reden, reden, bis wir einander kannten.“

Falls jemand meint, diese Position sei schwächer als das Proklamieren, das Verkünden, das Belehren, antworte ich mit His Bobness Dylan, nachdem ihn ein Folkie (wegen seiner Elektrogitarre) „Judas!“ angebrüllt hat: „I don’t believe you!“

Beim letzten Protestmarsch in Gleisdorf, der von einem Traktorkorso geprägt war, saß ich zwei Stunden neben einem Traktoristen in der Kabine und wir haben uns vorzüglich unterhalten, aber in kaum etwas geeinigt. Es hat überhaupt nicht weh getan…

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