20. Dezember 2021

Die Plauderpartie

Das ist ja als Slogan ganz gute Textarbeit: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut!“ (Das lyrische Potential liegt eben auch im Rhythmus eines Textes.) Schließlich: „Friede, Freiheit, keine Diktatur!“ Das ist rhythmisch gut gearbeitet. Aber es ist der Slogan, unter dem nun quer durch den deutschsprachigen Raum Medienleute, die man allenfalls an Mikrophonen und Kameras erkennt, attackiert werden. Was ich da in unzähligen YouTube-Videos sehen kann, ist SA-Manier.

Hier werden Medienleute beschimpft, da bedroht, dort angerempelt, auch geschlagen. Haben Sie das Video mit dem „Freiheitskämpfer“ gesehen, der einem Medienmenschen von hinten (!) die Beine wegzutreten versucht? (Was für ein dreckiger Charakter!) Ein Ministrant des Faustrechts.


Dafür steht also heute das Sätzchen „Friede, Freiheit, keine Diktatur!“ als eine reife Kulturleistung, die ich politisch klar einordnen kann. Hier wirkt der Geist des Neofaschismus, was sich in Schreiattacken und fliegenden Fäusten unmißverständlich ausdrückt. Wer diesen Slogan durch die Straßen brüllt, assoziiert sich mit gewaltbereiten Leuten.

Sagt Ihnen „Horst-Wessel-Lied“ etwas? Die ersten Liedzeilen lauten: „Die Fahne hoch! / Die Reihen dicht geschlossen! / SA marschiert / Mit ruhigem, festem Schritt“. Die SA = SturmAbteilung, war die paramilitärische Kampforganisation der NSDAP. Ein Schlägertrupp.

Das, genau das, ist eine der historischen Hintergrundfolien von Leuten, die heute alle, von denen sie Einwände hören, als „Lügner“ abtun und bedrohen. Lügenpresse, verlogene Wissenschaft, korrupte Politik, das ganze Programm; gerade so, wie man es braucht, um einen Staat im Staat anzustreben und ein „System“ zu stürzen.


Darum gelte ich ja auch als „Systemknecht“ und als „Schlafschaf“, das die Erweckung verschnarcht habe. In Gleisdorf geriert sich derart zum Beispiel eine Jausenpartie, deren politische Erweckung voriges Jahr begann, als die Pandemie ihnen persönliche Einschränkungen auferlegte und Einbußen an Geld wie an Komfort unausweichlich wurden.

Da ist eine Wellness-Prosecco-Partie politisch aufgewacht. Ich finde bei diesen Leuten kaum individuelle Aussagen, die persönlich zuordenbar wären. Ich lese einen endlosen Phrasenkatalog rauf und runter, bekomme eine Serie von Herbert Kickl-Zitaten hingeschmissen und erhalte einen Kurs in „Staatsbürgerkunde für Dorfdeppen“.

Es ist eine larmoyante Plauderpartie, die uns keinen Plan, kein Konzept vorlegt, bloß Krawall schlägt. Übrigens! Mein Metier handelt von Wissens- und Kulturarbeit. Wissenserwerb ist Arbeit. Die nimmt Zeit in Anspruch. Wissenserwerb hat verschiedene Ziele.

Er soll mir bei meiner Alltagsbewältigung nützen. Er soll mir Beiträge zur Stabilisierung des Gemeinwesens erleichtern. Er möge mir – und das ist seine vielleicht menschlichste Funktion – Erkenntnisgewinn bringen. Erkenntnis! (Nicht durch Verkündigung, sondern durch Wissenserwerb.) Hier übrigens drei weitere Bücher, die ich empfehlenswert finde.

+) Watzlawik, Beavin & Jackson: „Menschliche Kommunikation“. Ein Klassiker zu Themen, die mindestens jenen vertraut sein sollten, die sich auf Bühnen stellen und dem Volk etwas zurufen.
+) Niklas Luhmann: „Macht“. Ein kleiner, feiner Essay, der etliche Grundlagen verdeutlicht, damit wir besser wissen, wovon wir reden, wenn wir über Macht sprechen.
+) Friedrich Hacker: „Das Faschismus-Syndrom“. Der Aggressionsforscher hat diesen Essay 1992 publiziert, als die Wirkung der Neuen Rechten quer durch Europa unübersehbar geworden war.

+) Heimat (Übersicht)


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