19. November 2021
Manieren
Seit geraumer Zeit hält sich ein Motiv hartnäckig vor
meiner Nase. Immer mehr Menschen muten einander im Alltag
völlig unakzeptables Benehmen zu. Mein Kaufmann, mein
Hausarzt, der Security-Mann bei der Covid-Teststrecke, egal,
mit wem ich rede, sie erzählen von rüdem Benehmen und
verbalen Übergriffen.
Das steht für mich in einer
launigen Tradition jener Kanaillen, die etwa Angestellte in
einem Geschäft wie Putzfetzen behandeln. Ich erinnere mich
an einen honorigen Gleisdorf Bürger, dem bot ich bei meiner
Zahnärztin an, ihm den Ausgang zu zeigen, weil er sich dem
Personal gegenüber wie ein Herrenmensch benahm.
Er polterte noch kurz, doch als ich ihm avisierte, ich würde
gleich vom Sessel aufstehen und den Abstand zwischen uns
verringern, trollte er sich. Was ich damit sagen möchte:
eine Angestellte, ein Arzt, ein Unternehmer kann anmaßende
Kundschaft eventuell nicht so ohne weiteres in ihre
Schranken weisen.
Aber ich als Gast, Kunde, Patient,
kann das problemlos tun. Niemand sollte sich abwenden, wenn
Kanaillen auf Kosten anderer expandieren und Personal
herablassend behandeln. Solche Konsorten sind ohnehin meist
eher feige Charaktere, die man per scharfem Tonfall zum
Einlenken bewegen kann.
Ratlosigkeit und Sorgen
setzen uns als Gemeinschaft offenbar erheblich zu. Nun haben
wir Krach in der Komfortzone. Es war mir eigentlich schon im
ersten Lockdown (März bis Mai 2020) klar, daß wir in eine
enorme Komplexität geraten sind, die zu interessanten
Situationen führen wird. Die Geschehnisse zwischen 2010 und
2020 ließen keinen Zweifel aufkommen, daß Legionen von
Menschen die Mühen des Wissenserwerbs für eine Lachnummer
halten.
Wer sich seiner Neugier hingab, etwas wissen
wollte, Erkenntnisgewinn für erstrebenswert hielt, kam gut
davon, als „Streber“ abgetan zu werden. Wer sich dabei
erwischen ließ, in ein Thema tiefer reinzugehen, wurde
mitunter als „abgehoben“ oder als „elitär“ denunziert.
Allein schon der Kulturbetrieb quoll zunehmend von
großmäuligen Kräften über, wurde von Leuten geflutet, deren
Behauptungen und Slogans mich laufend staunen ließen. Auch
bei der regionalen (Kultur-) Politik und bei der Verwaltung
häuften sich Momentchen, in denen mir klar schien: Pose
reicht denen vollkommen.
Diese Eindrücke wurden mir
von leitenden Personen in Betrieben ganz unterschiedlicher
Größe unterstrichen. Vom Boss der Gemischtwarenhandlung
meiner Wahl bis zu Personalreferenten in Konzernen wie Magna
Steyr hörte ich abenteuerliche Geschichten über
Kompetenzmängel die sich hinter gewandter Selbstinszenierung
verbergen.
Aus Schulbereichen höre ich verschiedene
Kräfte erzählen: das neugierige Kind, das fragende Kind,
stört. Es gab Tage, da mußte ich mich tadeln lassen, weil
ich behauptet habe, viele unserer Schulen seien
Kadettenanstalten. Das kommt nun nicht mehr vor.
Wir
müssen in unseren Reihen offenbar neu klären, wodurch
Wildnis und Zivilisation zu unterscheiden sind und welchen
Grundsätzen wir uns verpflichten wollen. Mir scheint, die
Ratlosen brauchen Beistand und die Angriffslustigen müssen
deutlich zurechtgewiesen werden.
Es sollte sich als
machbar erweisen, wenigstens Nischen zu sichern, in denen
wir einen angemessenen Umgang miteinander gewährleisten, um
von da aus die geltenden Konventionen unserer Gesellschaft
zu überprüfen.
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