23. Oktober 2021

Europa entschlüsseln V

Lassen Sie mich nun den Sack zumachen. Wer immer die Stadt Grazer regieren wird, das gibt doch kein Klassenkampf-Revival her, auch kein „StalinGraz“. Ich finde allein schon diese Wortschöpfung widerlich. Stalingrad und Leningrad bergen Assoziationsmöglichkeiten, die mir für Scherze aller Art sehr unpassend erscheinen.

Historiker Yuval N. Harari schreibt von drei großen Erzählungen, die wir kennengelernt haben, nachdem die Monarchien im Zentrum Europas zu wanken begannen. Die faschistische Erzählung, die kommunistische Erzählung und die liberale Erzählung.

Es waren vor allem die Rote Armee und die US-Streitkräfte, von denen die faschistische Erzählung rund um 1946 militärisch beendet wurden. Die kommunistische Erzählung erledigte sich mit dem Berliner Mauerfall (1989) und dem Ende des Warschauer Paktes (1991). Was manche Kreise zum Revival bewegt, halte ich noch für Teile der alten Narrative, die so keine Zukunft haben.

Mentalitätsgeschichte ist zäh. Wer meint, faschistische und kommunistische Prägungen seien mit zwei, drei nachfolgenden Generationen erledigt, kennt die Welt nicht. Wie sehr die liberale Erzählung mittlerweile unter Druck geraten ist, sehen wir zum Beispiel an Polens Kaczyński, Ungarns Orban, Amerikas Trump und Italiens Berlusconi hatte uns schon gezeigt, wo solche Leute den Hammer hängen haben.

Wenn ich Harari richtig verstanden hab, ist die liberale Erzählung inzwischen auch an ihr Ende gekommen. Trifft das zu, sollten wir uns ganz zügig um neue Narrative kümmern, in denen Menschenrechte, Verteilungsgerechtigkeit und andere Qualitäten gesichert werden. Ich sehe das aber im Moment noch nicht.

Wer mir also von einem Stalin-Revival die Ohren vollsäuselt und zugleich das Sebastian Kurz-Debakel nicht erklären kann, lenkt derzeit nur davon ab, daß wir vermutlich erst einmal klären müssen: Was ist derzeit eine gute Frage?

Vor rund hundert Jahren kam gerade die Zweite Industrielle Revolution voll in Fahrt. Nun sind wir mitten in der Vierten Industriellen Revolution. Die Kunst reagiert auf solche Entwicklungen. So erschien zum Beispiel 1920 das Stück „R.U.R. – Rossum‘s Universal Robots“ von Karel Čapek. Es thematisiert unter anderem die tristen Arbeitsbedingungen in den Fabriken. (Dieses Werk gilt als Quelle des Begriffs Roboter.)

Das nämliche Thema griff auch Charlie Chaplin auf, dessen imposanter Film „Modern Times“ 1936 uraufgeführt wurde. Fitz Lang hatte ähnliche Motive schon 1927 im Film „Metropolis“ zur Debatte gestellt. Doch auch die agrarischen Welten müssen wir im Fokus behalten.

Sehr brisant John Steinbecks „Die Früchte des Zorns“ (1939) über das Elend der „Okies“, die der Dürre und dem Hunger im „Dust Bowl“ Oklahomas entkommen mußten. Übrigens! Von der „Great Depression“, die mit dem „Schwarzen Donnerstag“ (24. Oktober 1929) begann, hat uns Dorothea Lange beeindruckende Fotografien hinterlassen.

Über all das haben wir heute viel Klarheit. Bei uns führten diese Prozesse vom Großen Krieg in den Austro-Faschismus und in die bis heute beispiellose Anmaßung der Nazi. Das ganze Paket lese ich als einen Zweiten Dreißigjährigen Krieg, der Europa zerrüttet hat. Seither haben die rund zweihundert Jahre permanenter technischer Revolution alle Abläufe unseres Lebens beschleunigt und die Globalisierung ist eine umfassende Realität. Graz wird sich schon zurechtrütteln. Aber was will Europa werden, seit es kein sicherheitspolitisches Protektorat der USA mehr ist?

+) Wachsende Unruhe (Übersicht)


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