15. Oktober 2021

Europa entschlüsseln I

Seit dem letzten Eintrag ist rund eine Woche vergangen. Ich hatte keine Zeit, hier die offenen Enden zusammenzuführen. Da war also kürzlich das Gezänk rund um den Wahlerfolg der KPÖ in Graz und allerhand an Polemik darüber, was nun an Marx und Engels festzumachen sei. Inzwischen ist Tito im Gespräch, zu dem wir ja keinerlei Unklarheiten haben, wie er mit politischen Gegnern abgefahren ist.

Daß politischer Mord zu diesem Repertoire gehört hat und stellenweise große Opferzahlen in Felshöhlen verborgen wurden, ging vor vielen Jahren durch die Medien. Wer das nun zum ersten Mal erfährt, mag sich empören, für mich ist das bloß eines von vielen Details der Geschichte Südosteuropas, die sehr düstere Seiten hat.

Für all das interessiere ich mich seit den 1980er Jahren kontinuierlich. Es kam in den letzten 20 Jahren stets neu in meinen Projekten vor. Siehe dazu aktuell: "Zwei Jahrzehnte" (Im Umbruch)!

Also: Marx, Engels, Tito, Milovan Djilas nicht zu vergessen, der Stalin kannte, aber dann bin ich auch gleich mitten in der Literatur, denke etwa an Aleksandar Tisma, von dem es bewegende Arbeiten gibt, die beitragen, dieses Europa des 20. Jahrhunderts zu entschlüsseln, zu verstehen.

Da finde ich mich dann mit Aufgaben befaßt, die es mir wert erscheinen, in die Tiefe zu gehen. Dieses Europa des 20. Jahrhunderts zu entschlüsseln. Wie amüsiert es mich, was ich in den öffentlichen Debatten während der letzten Wochen an christlich-sozialem Eifer erlebt hab. Das ist angesichts der mutmaßlichen Malversationen auf Ebene der Spitzenpolitik ein ziemlich trübes Gehampel. (Wir werden bald sehen, welchen Anteil an Heuchelei das hatte.)

Ich verachte den Mangel an aufrechtem Gang ebenso wie den Mangel an Esprit. Deshalb hier noch ein paar Takte zu der erwähnten Entschlüsselung, bei der uns Künstlerinnen und Künstler oft sehr geistreich und treffsicher unterstützen.

Ich bleibe bei meiner Einschätzung: das „Kommunistische Manifest“ ist ebenso ein Stück Literatur, von zwei geistreichen Leuten verfaßt, und man kann Marx wie Engels nicht unterstellen, daß sie darin eine Anleitung zu jenem Kommunismus geliefert hätten, wie wir ihn im Kalten Krieg noch kennengelernt haben. Das Repressive in jenen Cold War-Szenarien finde ich natürlich auch in der Geschichte der Christlichsozialen, in jener der FPÖ sowieso…

Stefan Zweig hat übrigens in den „Sternstunden der Menschheit“ eine seiner historischen Miniaturen jenem politischen Manöver gewidmet, mit dem Deutsche den damals vielversprechenden Lenin in einem versiegelten Zug aus der Schweiz nach Rußland schufen, um etwas auszulösen, was die Romanows unter die Erde brachte. So heißt auch die Zweig’sche Miniatur: „Der versiegelte Zug“. (Über Lenin, Stalin und Mao käme das Grazer Thema dann voran.)

Auf welche Verhältnisse haben Marx und Engels mit ihren Analysen geantwortet? Na, reichlich auf die Konsequenzen von Handlungsweisen jener Eliten, in deren Tradition sich zum Beispiel Christlichsoziale heute noch sehen. Da wird man auf der Suche nach Beispielen auseichend fündig. Aber ich bleibe im Allgemeineren Europas und befrage hier weiter die Kunst.

Mitte des 18. Jahrhunderts schuf der Maler und Kupferstecher William Hogarth Arbeiten wie „Gin Lane“ oder „Beer Street“. Das waren Reaktionen auf die britische Gin-Epidemie, auch Branntwein-Krise genannt, die sich in der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts breit gemacht hatte. Polemisch verkürzt: weite Bevölkerungsteile befanden sich so tief im Elend, daß sie ihre Existenzen bloß im Suff ertrugen.

Zwischen 1845 und 1849 führten Mißernten in Irland zu einer entsetzlichen Hungersnot. Patrick Kavanagh beschrieb das im beeindruckenden Gedicht „The Great Hunger“. Wir müssen wohl nicht streiten, was der Herrschaft an Verantwortung zukam, wenn ihnen anläßlich solcher Probleme Untertanen massenhaft wegstarben, andere das Land verließen.

Im Jahr 1892 erschien Gerhard Hauptmanns Stück „Die Weber“, das von den sozialen Unruhen handelt, die in der Frühindustrialisierung entstanden, als die Nöte vieler Menschen im Jahr 1844 zum schlesischen Weberaufstand führten. [Fortsetzung]

+) Wachsende Unruhe (Übersicht)


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