4. Oktober 2021

Lernen wir Geschichte!

Ich lese „Das kommunistische Manifest“ als ein historisches Dokument, das mir nützt, um die Zeit ab der Ersten Industriellen Revolution zu verstehen und unsere Ideengeschichte genauer kennenzulernen. Solche Lektüre erlebe ich wie das Lesen der Texte von Platon, Aristoteles oder Augustinus. Das ist aufschlußreich.

Alle diese Denker haben Menschen dazu angeregt, eigenes Handeln zu adaptieren und dabei deren Texte als Legitimation zu verwenden. Die Werke dieser Denker sind auf solche Art ausnahmslos mit Blut bespritzt. Doch jeder Text ist nur ein Teil von Mitteilungen, wozu auch Kontext und Subtext gehören. Die Intentionen eines Autors müssen sich nicht mit jenen seiner Anhänger decken.

Wer würde mir meine Berufsausübung verbieten wollen oder mich wenigsten mit erhöhter Aufmerksamkeit beargwöhnen, falls ich verkünden sollte, ich verstünde mich als Platoniker? (Und glauben Sie mir, der ist mit seinem Werk, mit dessen Wirkung und Konsequenzen, keineswegs harmloser als Karl Marx.)

Daher: Vorsicht! Vorsicht, was Sie sich wünschen und was Sie gerne politisch umsetzen würden. Seien Sie achtsam, wenn Sie mir Quellen nennen, aus denen Sie Legitimation ziehen wollen, wahlweise: dank derer Sie andere Leute zurechtweisen wollen. Da sollten wir dann sehr genau sein.

„Lernen Sie Geschichte, Herr Redakteur“, soll Bruno Kreisky einst jemandem zugerufen haben. Beim ORF hat man genauer zitiert: „Lernen'S ein bissl Geschichte und dann werden Sie sehen, Herr Reporter, wie das in Österreich sich damals im Parlament entwickelt hat.“ [Quelle]

Man möchte diese Botschaft umdrehen und brüllen: „Lehren Sie uns Geschichte, Herrschaften!“ Lassen Sie mich an Ihrem Wissen über das 19. und 20. Jahrhundert teilhaben. Graz und der aktuelle Wahlsieg der kommunistischen Partei: was für ein lebhafter Anlaß, auf das vorige Jahrhundert zu blicken, um zu überprüfen, wo wir angekommen sind. Und wo soll es hingehen?

Zu meinen Glossen schrieb mir eben ein Lokalpolitiker der ÖVP, ein Unternehmer und Vorsitzender des hiesigen Wirtschaftsausschusses mit Bezug auf „Das kommunistische Manifest“, daß man heute den Anfängen wehren müsse, „Denn alles, was in dem von dir zitierten Manifest steht, setzt voraus, dass die Freiheit des Einzelnen zerstört wird.“ Ferner: „Zum Manifest: wie gesagt, alles darin Gesagte zerstört die Freiheit.

Ich kann das aus der Lektüre des Textes nicht ableiten, kann diesen Befund nicht nachvollziehen, aber ich verstehe Kontext und Subtext der Mitteilung. Ich denke, der Text – das Manifest - gibt das nicht her, aber die Deutung und die Motive zu dieser Deutung erscheinen mir plausibel; für die Gegenwart und für einen Funktionstragenden der ÖVP. Er muß sein Alltagsgeschäft bewältigen und verkürzt im Alltagsdiskurs eben.

Das ist okay. Doch dann müssen wir schon etwas tiefer graben. Marx war ein Philosoph und Ökonom, kein Politiker. Er hat seine Zeit analysiert und Schlüsse gezogen. Er hat Vorschläge gemacht, was man aus seinem Befund ableiten könnte. Das Manifest von Marx und Engels wurde 1848 publiziert. Was Lenin und schließlich Stalin daraus gemacht haben, ist evident.

In Zeiten dieser Transition haben übrigens gute Katholiken die 1848er Revolution in Österreich blutig niederschlagen lassen. Sie haben etwa mit brüllender Inkompetenz eine Staatskrise riskiert, als der Sprachenstreit hochging. (Die sogenannte „Badeni-Krise“ in den 1880er Jahren.) Das war der Vorbote einer rassistischen und vor allem antislawischen Politik, die auf ganz direktem Weg in den Ersten Weltkrieg geführt hat.

Dabei ließ sich Seine Kaiserliche und Königliche Apostolische Majestät, ein guter Katholik, von weit weniger klugen Leuten beraten als einem Karl Marx. Aber dazu komme ich im Detail noch.
Wer also heutige politische Positionen zeit- und ideengeschichtlich sortieren möchte, hat mit christlichen und sozialistischen Vordenkern gut zu tun.

Postscriptum
Das sind spannende Zusammenhänge! (Inzwischen zeigen sich auch „SPÖ-Klubobmann Hannes Schwarz und Stv.-Landesgeschäftsführer LAbg. Wolfgang Moitzi beunruhigt“, was ich total rührend finde!) Ich leide übrigens unter einer offenbar unheilbaren Deppen-Allergie. Die macht mir zwei Eigenschaften an Menschen besonders unerträglich: Heuchelei und den Mangel an Esprit. Deshalb juckt mich derzeit einiges und ich muß an diesen Themen noch eine Weile dranbleiben.

+) Wachsende Unruhe (Übersicht)


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