27. August 2021
Rückweg im Regen
Markierungen. So wie Fähnchen am Wegesrand. Meine kleine
Zahlenmystik: Blatt Nummer 3.100 in diesem Logbuch. Dieses
formal ungebundene Schreiben, das völlig meiner Kontrolle
unterliegt, was naturgemäß allerhand Aussetzer und
Unzulänglichkeiten bedingt.
Ich habe in den letzten
Jahren öfter nachgedacht, ob es eine kluge Entscheidung war,
all diese Dinge so zu handhaben. Dabei wurde mir klar, daß
ich mit dem Talent zu klugen Entscheidungen ein völlig
anders Leben geführt hätte. Daran finde ich nichts
verlockend.
Das erinnert mich im Moment gerade an eine zurückliegende
Zeit, da die Grazer Autorinnen Autorenversammlung in der
Schreibweise noch ohne Autorinnen auskam. Im Zentrum dieser
Formation wirkte damals eine honorige Dame, die weit mehr
vom Leben und der Welt wußte als ich.
Ilse M.
Aschner. Ich dachte eben daran, wie sie mich in einem
Telefonat einmal ermahnte, ich solle mich auf das
literarische Schreiben und das Verfassen von Büchern
konzentrieren, sonst würde ich es sehr schwer haben, als
Autor zu reüssieren.
Es gab so viele gute Ratschläge,
die an mich vergeudet waren. Also kann ich mich nicht
beklagen, wenn mir am Lauf der Dinge etwas mißfällt. Oft
aber gefallen mir die Angelegenheiten. Als ich gestern im
Regen nach Hause kam, diese trüben Spuren im Wasserfilm auf
dem Asphalt, hatte ich eine Tasse mit Keksen und
Kuchenstücken dabei.
Ich war davor auf der Veranda von zwei geselligen Menschen
gesessen, die sich seit 60 Jahren kennen und demnächst so
lange, sechs Jahrzehnte, verheiratet sein werden. Da war
während unseres Gespräches ein sehr berührender Moment
gewesen. Die Frau hatte sich zu ihrem Mann auf die Bank
gesetzt. Sie ergriff seine Hand, die von einem Tremor
geschüttelt wurde, so als wäre das etwas Unanständiges, was
man verbergen müßte.
Er aber befreite seine Hand und
sagte leise: „Laß das!“ Später, beim zweiten
Kaffee, unterhielten wir uns darüber wie man damit umgehen
solle, wenn die verbleibende Lebenszeit so anschaulich wird.
„Ich war eben 65“, sagte ich, „und sehe,
wie jetzt Menschen um mich mit 80, 81 Jahren sterben. Das
wären noch 15 Jahre. Eine überschaubare Zeitspanne.“
Die Frau sagte: „Ach, da sind wir ja schon. Ich bin aber
ein Jahr älter als er.“ Also 81. Das wurde dann so eine
kleine Erörterung, wie man es anstellen könnte, einen Moment
zu erreichen, in dem sich sagen ließe: „Es darf enden“.
Die Frau hat schließlich sehr bewegt vom Tod ihrer Schwester
erzählt, der ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Eine durchaus
ungewöhnliche Situation, denn wir waren uns ja gerade zu
ersten Mal begegnet. Beim Abschied boten sie mir beide an,
daß wir uns duzen und beim Vornamen ansprechen sollten.
Verstehen Sie jetzt vielleicht ein wenig, was mich da
bewegt? Natürlich ließe sich das in Literatur umsetzen. Das
sind alles Details, mit denen man einen Roman ausstatten
könnte. Aber! Ich bin von diesen Dingen auf eine Art bewegt,
daß ich keine solche Distanz herstellen will. Und leider
fehlt mir die Grandezza, so einen Moment in Literatur zu
fassen, ohne dabei auf Distanz zu gehen.
Damit will
ich deutlich machen, daß literarisches Vermögen sowas kann,
Literatur erschaffen, ohne auf Distanz zum realen Leben zu
gehen; und mehr noch, Literatur zu erschaffen, die aus dem
Nichts eines Gedankens kommt und uns den Eindruck gibt,
reales Leben zu sein. Aber das ist eben eine andere Liga…
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