23. Mai 2021
Gewalt
Ich hatte diese Notiz eine Weile zur Seite gelegt. Es war
für mich dieser Tage verlockender, von den sehr persönlichen
Notizen rund um den Muttertag in allgemeinere Gewässer zu
rudern. In diesen Regentagen, da einige meiner Vorhaben
verschoben werden mußten, fand das Thema nun wieder Platz.
Ich blicke zurück und komme zur Überzeugung, daß
innerfamiliäre Gewalt zwar aus manchen Nischen verdrängt
werden konnte, vielleicht sogar von größeren Gebieten
menschlicher Gemeinschaft, aber eine breite
gesellschaftliche Ächtung solcher Gewalttätigkeit fehlt
immer noch.
Wie ist das möglich? Meine Annahme: eine düstere Kumpanei
und der mediengestützter Propagandaapparat, durch den das
Problem im Kern geschönt, relativiert, heruntergespielt
wird. Das funktioniert immer noch zu gut und hat zu viele
Ressourcen zur Verfügung.
Wozu ist das gut?
Gewaltausübung hat immer Nutznießer. Manche beziehen daraus
enorme Kicks. Ich denke, es sind keine Bilder aus der
Splatterpunk-Abteilung, die uns da etwas klarer machen. Es
muß mit der Justierung unserer Wahrnehmung zu tun haben.
Prinzipiell sind wir alle hinreichend ausgestattet,
Schmerzreaktionen der Opfer wahrzunehmen, wenn wir jemanden
verletzten.
Wenn Gewalttätigkeit so viel Platz hat,
dann beruht das auf der Brutalisierung von Teilen unserer
Gesellschaft. Und zwar auf Arten, die nicht vom Himmel
fallen. Das alles machen wir uns miteinander aus. Aktiv und
durch Schweigen. Durch Beschönigung und durch skurrile
Legitimationsversuche.
Kann man sich ausmalen, wovon
hier die Rede ist? Geht das mit
Bildern abseits des
Boulevards? Gewalt gegen Wehrlose gedeiht in Spiralen. Es
ist immer ein Crescendo. Ich will Ihnen ein Gedankenspiel
anbieten, um auf metaphorische Art zu beschreiben, was sich
da mitunter ereignet.
Stellen Sie sich vor, Sie
sitzen stabil auf einem bequemen Sessel. Sie greifen sich
den Unterarm eines kleinen Kindes, legen ihn knapp ober dem
Knie auf den Oberschenkel und beginnen, auf beide Seiten
Druck auszuüben.
Das machen Sie so lange, bis Elle
und Speiche brechen. Nun überlegen Sie, was dabei in diesem
Kind vorgeht. Das Entsetzen, nicht begreifen zu können,
warum etwas so Übles geschieht. Es wird durch den
anschwellenden Schmerz befeuert, was Panik auslöst, ergänzt
durch den Schrecken, dieser Pein nicht entkommen zu können.
Das schaukelt sich wechselseitig hoch, bis die Knochen
brechen. Nein, davon wird man nicht ohnmächtig. Man bleibt
dabei. Was das auslöst, bekommt nun noch eine spezielle
Färbung dadurch, daß jeglicher Trost ausbleibt. Damit ist
die Sache aber nicht überstanden. Es wird ein nächstes Mal
geschehen.
Zwischendurch wird das Kind bearbeitet,
auf daß diese Erfahrung eine Täuschung erfährt. Es darf
seinem Empfinden über solche Erlebnisse nicht trauen. Nun
sind vielleicht mehrere Durchgänge solchen Entsetzens nötig,
bis folgendes klar wird: 1.: Du entkommst nicht. 2.: Besser
leise sein, denn laut sein macht es schlimmer. 3.: Es ist
nicht das, wonach es sich anfühlt, was Du denkst ist
bedeutungslos.
Um diese Effekte zu vertiefen, setzen
Erwachsene das ganze verfügbar Instrumentarium ein, zwischen
schmeicheln, schönreden und drohen. Wie viele Durchgänge es
braucht, damit die Lektion sitzt, ist von Menschlein zu
Menschlein unterschiedlich. Aber der Umstand, daß man ohne
Schutz bleibt, vertieft die Effekte und korrumpiert die
eigene Wahrnehmung weiter. Es kann ja nicht sein! Aber es
ist so! Also muß mit einem selbst etwas nicht stimmen, die
Erwachsenen müßten doch sonst reagieren, sowas abstellen.
Das Angebot lautet dann, daß man a) seinen Verstand
verlieren kann, wahlweise b) seine Selbstwahrnehmung
reorganisieren sollte. Das muß nicht explizit formuliert
werden. Niemand muß es aussprechen. Die gesamte Prozedur ist
bewährtes Kulturgut, des die Botschaft in das Opfer
eingraviert. (Eine Variante dessen hat Klaus Theweleit in
seiner Faschismustheorie ausgeführt. Seine provokante
Annahme: man schluckt Schlag für Schlag, bis man danach
süchtig wird.)
Gewalttätigkeit muß vor allem als
kultureller Code ausgehebelt und der Verschwiegenheit im
Sozialen entrissen werden. Solange es uns unangenehm ist,
den Mißhandelten zuzuhören, ihrem Kummer und ihrer Scham für
Momente zu begegnen, kommt das nur sehr schleppend oder gar
nicht voran.
+)
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