11. Mai 2021
Vater
Bei Erinnern, auf welche familiären Bilder sich mein
Selbstverständnis stützen darf, ist das Motiv „Mutter“
natürlich durch die Skizze „Vater“ zu ergänzen. Hubert
Krusche wurde im Juni 1924 geboren. Als der Zweite Weltkrieg
im September 1945 endete, war er gerade einmal 20 Jahre auf
der Welt. Nahkampfspange, Eisernes Kreuz, Goldenes
Verwundetenabzeichen und ein völlig verwüsteter Körper.
(Über den Zustand seiner Seele konnte man nur spekulieren.)
Dieser Überlebende eines Bewährungsbataillons
(„Strafkompanie“) barg Erfahrungen, die man sich nicht
vorstellen möchte. Das hatte ihn teilweise zu einem völlig
amoralischen Mann werden lassen, was bedeutet, es gab eine
Reihe von gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungen,
an die er sich nicht mehr gebunden fühlte.
Dazu kam, daß er reizbar war und mit einer bestürzenden
Wucht zuschlagen konnte. Eine Kraft, die in seinen mächtigen
Oberarmen wohnte. Die kaputten Beine des Krüppels
verlangten, daß jedes Hinsetzen, Hinlegen und wieder
Aufstehen von den Armen gestemmt werden mußte. Jahrzehnt für
Jahrzehnt.
Ich erwähne das, weil solches Maß an
Verwüstung und Traumatisierung damals ein banales
Massenereignis gewesen ist, aber naturgemäß das Klima in
einer einzelnen Familie bestimmte. Ich kenne keine Hinweise,
daß man den Leuten dabei entgegengekommen wäre, womit ich
zum Beispiel an staatliche Hilfsangebote zur
Traumabewältigung denke.
Natürlich lief bei
Konflikten die Spannungsabfuhr von oben nach unten, immer zu
den Schwächsten hin. (Oh! Warte! Das hat sich bis heute
nicht geändert.)
Mein Vater hatte ein paar sehr
simple und klare Kriterien. Dazu gehörte: wenn er Soldat
ist, dann ist er ein Mann. Ein wenig überraschend bei einem
Krüppel mit seiner Schlachtfelderfahrung, aber glauben Sie
mir, das ist schlüssig.
Ich war noch keine 18, als
ich Soldat wurde. Ich denke im Rückblick, das hing mit
seinen Ansichten zusammen. Als ich 14 oder 15 war, ist ihm
klar gewesen, daß ich intellektuell härter drauf bin und
emotional womöglich ebenbürtig. Also blieb diese
interessante Option. Voilá:
Ich will damit sagen, all das bedeutet unter anderem, wir
Kinder waren die Brut einer enorm brutalisierten
Gesellschaft, die in den 1950ern um neue Möglichkeiten rang.
Falls diese Glosse im Vergleich zu meinen Notizen über die
Mutter moderater wirkt, dann kommt es womöglich daher, daß
der Alte für einen Teil seines Lebens einen anderen Weg
gesucht hat als sie.
Er hat sich mir geöffnet, sich
mit mir über sein Leben auseinandergesetzt. Das geschah
abschnittweise mit einem Verzicht auf Selbstschonung, der
mich überrascht hat. Es gibt an seinen wüsten Seiten nichts
zu beschönigen. Aber er hat sich dem gestellt, hat es nicht
nur für sich getan, sondern zum Beispiel mit mir geteilt.
Außerdem hat er mit einer Radikalität gesühnt, die alles
übertraf, was mir davor untergekommen war. Ich habe sein
Bemühen erlebt, nichts zu bemänteln. Er rang um meine
Achtung, indem er auf mein Verstehen hoffte. Verstehen als
ein Erkennen, wovon sein Leben gehandelt hat und worin so
manche Grausamkeit begründet lag.
Vielleicht war
diese Öffnung auch dadurch erleichtert, daß wir als Vater
und Sohn die gleichen Codes einer vorherrschenden
Männerkultur sehr gut kannten und beherrschten.
+)
Relationen (Übersicht)
[Kalender]
[Reset]
|