8. Februar 2021
Die Stunde der Conquista
Es gibt Dialogmomente, die sind ein eher verläßlicher
Hinweis, daß eine Beziehung am Kippen, womöglich am
Zerbrechen ist. Einer der Klassiker geht so: „Du
verstehst mich nicht!“ „Ich verstehe dich sehr gut, aber
ich stimme dir nicht zu.“ „Nein, du verstehst mich
nicht!“
Diese und ähnliche Passagen verraten einem, daß es gerade
nicht um Austausch, sondern um Definitionsmacht geht. Wo
sich das einnisten darf, ist nach meiner Erfahrung kein
gemeinsamer Boden mehr zu halten. Die Stunde der Conquista.
Aber sowas ereignet sich nicht bloß in
Liebesangelegenheiten, sondern auch in ganz banalen
Momenten, unter flüchtigen Bekannten, selbst unter Fremden.
Es scheint, die Pandemie kann einen Verstand schwächen,
indem es ihn zum Gefühl verleitet, besonders stark zu sein.
Sie merken schon, in diesem Satz liegt eine kleine
Irritation versteckt. Wie soll denn der Verstand etwas
fühlen?
Das Verstehen ist Sache des Geistes, das
Fühlen eine Angelegenheit des Leibes… möchte man annehmen.
Tatsächlich wirken aber selbstverständlich beide Instanzen
zusammen, um unsere Kognitionsakte und Schlußfolgerungen
abzuarbeiten.
Vorgestern traf ich auf meinem Rundgang
einen Mann, dem ich dabei vielleicht zum vierten Mal
überhaupt begegnet bin. Wir unterhielten uns kurz über
Befindlichkeiten, Vorratshaltung und Einkäufe. Plötzlich kam
ein Crescendo in unser Gespräch.
Über die schmale Gartengasse hinweg, die uns auf Distanz hielt,
wurde der Mann sehr laut. Die wachsende Heftigkeit hatte sich
offenbar daran entzunden, daß ich zu einigen seiner Ausführungen
meinte: „Das kenne ich alles. Das sind deine Schlußfolgerungen.
Aber was sind deine Quellen? Was taugen die?“
Statt die
Quellen zu erfahren, hörte ich erneut, was die FFP2-Masken
taugen und was die Maßnahmen der Regierung wert sind, was
Minister Anschober kann, was wir an Übersterblichkeit gerade
haben oder nicht haben, wo die Influenza sei, die man gegen
Corona getauscht habe, was mit dem ganzen Land, ja, was mit der
Welt geschehe.
Mein Einwand: Ich kenne diese Ansichten.
Ich höre laufend Diskussionsrunden aus Österreich und
Deutschland, von „Im Zentrum“ und „Hangar 7“ bis „Hart aber
fair“ etc. Ich beachte Parlamentsdebatten. Ich lese deutsche und
englischsprachige Berichte. Ach, und Facebook nicht zu
vergessen, das Füllhorn irdischen Wissens. Ergo: was immer der
Mann zu sagen hatte, war mir schon bekannt.
Also brachte
ich vor, was ihn offenbar zornig machte: Ich schaffe es
keinesfalls, die aktuellen wissenschaftlichen Kontroversen zu
rezipieren und daraus nützliche Schlüsse zu ziehen.
Kontroversen! Natürlich sind wissenschaftliche Kräfte zu vielen
der Aspekte widersprüchlicher Ansicht. Sonst wäre es ja keine
Wissenschaft, sondern Religion.
Man entwickelt eine
These, man versucht die These zu falsifizieren, um
herauszufinden, ob sie verifiziert werden kann. Genau das
passiert derzeit weltweit zu wenigstens tausend Aspekten der
Pandemie. Ich kann der Fülle von Argumenten längst nicht mehr
folgen, kann sie auch nicht auswerten.
Dazu kommt der
ganze Schwampf an Privatmythologien und an all dem, was Geister
von mäßiger Kondition derzeit so dahinbehaupten. Aber der Mann
in der Gartengasse weiß schon Bescheid und möchte mich belehren?
Ein erschütterndes Wunder der Erkenntniskraft...
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