19. Jänner 2021
Wir genügen einander
nicht mehr
Was, wenn ich sorglos wäre? Einfach vergnügt, weil
nötige Dinge erledigt sind, mir Zeit zum Durchatmen bleibt
und ich auch keine Geldsorgen habe. Na, das ist eine wohlige
Phantasie. Ich hatte ja solche Zeiten. Jetzt aber hab ich
sie nicht. Punkt.
Dazu kommt diese merkliche
Eskalation unter Menschen, wo sie einen mediengestützten
Umgang miteinander haben. Die Pandemie hat einen Prozeß der
Brutalisierung dieser Gesellschaft ausgelöst, in dem auch
wechselseitiges Mißtrauen offenbar sprunghaft zunimmt.
Dabei waren wie die letzten Jahre
schon sehr unter Druck geraten, was sich aber von vielen
offenbar ganz gut bemänteln und kompensieren ließ. Das hat
bis in persönliche Beziehungen hineingewirkt, hat vieles
aufgebrochen, was hätte haltbar sein sollen. Im Rückblick
scheint mir, es konnte sich schon über Jahre anbahnen: wir
genügen einander nicht mehr.
Es ist mir keineswegs
rätselhaft, erscheint mir aber sehr irritierend. Ich gehöre
mit anderen 1950er Jahrgängen der überhaupt ersten
Generation unserer Menschheitsgeschichte an, die in einem
bis dahin nie dagewesenen Zusammenspiel von Wohlstand,
Freiheit und Sicherheit aufwachsen durfte.
Darin
konnten auch alte Rollenkonzepte fallen, um persönlichen
Freiraum zu schaffen, in dem sich neue Optionen erkunden
ließen. Außerdem war die ständische Gesellschaft mit ihren
streng hierarchischen Bindungen wenigstens prinzipiell
Geschichte.
Ferner hatten meine Großeltern den
vermutlich nutzlostesten Kaiser des Hauses Habsburg überlebt
und meine Eltern den Tyrannen. Danach gab es unglaublich
viel Spielraum, eine völlig neue Situation zu schaffen. Wie
war es dann möglich, daß wir einander nicht mehr genügen?
Ich weiß es nicht. Im Rückblick scheint mir unübersehbar, daß
wir ab 2010 von den Konsequenzen der Immobilen-Blase und
Bankenkrachs in den USA erreicht wurden, was unsere eigenen
Ungereimtheiten verschärft hat. Spätestens ab 2015 wurde ein
intensives, teils schmutziges Rennen um Ressourcen erlebbar. Das
hat etwa den Kulturbetrieb in weiten Bereichen veränderten blieb
aber durch allerhand Schönrederei fein kaschiert.
Mit
meinen Begriffen heißt das einfach: wir haben uns korrumpieren
lassen. Ich meine, das betraf berufliche Felder ebenso wie
private Beziehungen. Wir haben nun zehn Monate ab dem Punkt, da
Österreich erstmals unter Lockdown gestellt wurde, hinter uns
gebracht.
Eine Zeit der Blüte von Privatmythologien und
des Ringens um Partikularinteressen gegenüber dem Gemeinwesen.
Ich wüßte zu gerne, wohin das mehrheitlich tendieren wird. Wird
es a) Richtung Katharsis und Neuorientierung gehen oder b)
Richtung weiterer Brutalisierung? Keine Ahnung!
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