30. Dezember 2020

Morrison

Als Büchernarr bin ich ein Lesender, den es vergnügt, wenn mich ein Text auf Anhieb umhaut. Als Autor kann sowas ein harter Schlag sein. Ich hab in solchen Situationen immer Momente, in denen ich meinen Kopf schüttle, wissend, daß ich nie in der Lage sein werde, etwas hinzulegen, wie es gerade vor mir liegt. Aber der Büchernarr setzt sich schnell durch und das Vergnügen überwiegt.


Ich erhielt in derlei Zusammenhängen von milden Seelen schon so manchen Rat, wie man sich damit einrichten könne und was dann für das eigene Selbstbewußtsein zu tun sei, um diese Diskrepanz zu mindern. Das beruht aber auf einem Mißverständnis.

Ich verzehre mich nicht nach der Größe einer Toni Morrison, sondern bin in meinem Ego gut und fröhlich zuhause. Was uns trennt, ist ein reales künstlerisches Vermögen. Für meine künstlerische Arbeit bleibt es äußerst wichtig, daß ich Nuancen und Differenzen wahrnehmen kann, also Dimensionen sehe und verstehe. So zum Beispiel die reale Differenz zwischen meinem Schreibvermögen und dem von Toni Morrison.

Ich wäre ja wie ein Geisterfahrer im Nebel unterwegs, wenn es mir nicht gelänge, derlei Unterscheidungen vorzunehmen. Das würde sich auf die Ergebnisse meiner Arbeit äußerst nachteilig auswirken. Ergo: ich gedeihe ganz gut im Schatten dieser bedeutenden Schriftstellerin. Und ich erfreue mich an der Lektüre ihrer Bücher.


Musiker Oliver Mally hat mir eben ihren Roman „Jazz“ geschenkt. Das Buch erschien 1992 in New York. Ein Jahr, in dem mein Sohn geboren wurde. Ein paar Monate davor war ich mit meinem Motorrad unter einen LKW-Zug geraten. Lauter große Emotionen.

Natürlich bin ich derweil ein vollkommen Anderer geworden. Dreißig Jahre danach, ich würde es als Zumutung empfinden, wollte jemand aus jenen Tagen heute feststellen: „Du hast dich überhaupt nicht verändert.“ Ich verstehe zwar die Intention von solchen Mitteilungen: „Bleib wie du bist.“ Aber ich müßte antworten: „Lieber nicht!“

Mally und Morrison. Das ist heuer kontinuierlich verwoben. Wir haben es heuer im ersten Lockdown an einem Morrison-Text aus dem Jahr 2015 festgemacht: „No Place for Self-Pity, No Room for Fear“. Darin heißt es an einer Stelle: „This is precisely the time when artists go to work - not when everything is fine, but in times of dread. That’s our job!” Dem haben wir derzeit nichts hinzuzufügen.


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