23. Dezember 2020

Das Elend der Kinder von Kara Tepe II

Es ist verlockend, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Ich finde es reizvoll, die eigenen Positionen zu überprüfen. Wozu? Es bringt mehr Bewegung ins Denken und in den Lauf der Dinge. Die Zukunft ereignet sich sowieso demnächst, ob wir uns drauf einlassen wollen oder nicht. Deshalb finde ich das Thema Zukunftsfähigkeit rasend interessant.


Das handelt freilich im Kern stets auch von Dingen, die derzeit noch nicht gedacht werden können. Also wird eine möglichst stichhaltige Beschreibung des Status quo so oder so nützlich sein. Und so mancher Rückblick. Ein Beispiel.

Wir haben im Jahr 1995 eine unmißverständliche Erfahrung gemacht, was geschieht, wenn die ganze EU großem Unrecht einfach zusieht, ohne einem Aggressor in den Arm zu fallen. Dann wird beizeiten in großem Maß gestorben.

Ratko Mladic war ein düsterer Warlord, der „die Türken“, also bosnische Muslime, glühend haßte. Daraus machte er kein Hehl. Er äußerte sich dazu vor laufenden Kameras. Als Mladic mit seiner Soldateska in eine bosnische Schutzzone vordrang, konnte er dabei einen Posten der Blauhelme einnehmen, ohne daß die Völkergemeinschaft diesen Vormarsch abstellte.

Es dauerte Tage, bis Mladic die Enklave Srebrenica unter Kontrolle hatte. Militärischen Widerstand gab es dabei nicht. Seither fehlen rund achttausend Bosniaken, die völlig unbehelligt in Busse verfrachtet, abtransportiert und ermordet wurden. Wir alle konnten nicht bloß diesem Abtransport zusehen, es fanden sich auch bald Videos von den Mordtaten im Web.


Diese Verbrecher haben die Todesangst von Opfern inszeniert und Bilder davon verbreitet. „Zašto se treseš?!“ „Wieso zitterst du?!“ Die Truppe von Mladic übte demonstrative Gewalt aus, um Schrecken zu verbreiten, der den Soldaten vorauseilte.

Das ist eine taugliche Waffe: Schrecken. Wir nennen diese Strategie Terror. Siehe dazu auch meine Notiz vom 7. Jänner 2009. Mladic bedrohte höchst selbstbewußt den Kommandanten eines Bataillons. Er bot Thomas Karremans, dem Kommandeur der „Dutchbat III“, eine Zigarette an und sagt dazu: „Sorge dich nicht, es wird nicht deine letzte sein.“

Europa hat angesichts bewaffneter Aggressoren umfassend versagt, ein offenkundiges Massaker geschehen lassen. Wir waren das Publikum dieser Schande Europas. War uns das eine Lektion? Sind wir heute bereit und in der Lage, Elende in einer Schutzzone vor dem Entsetzen zu bewahren?

Ich kenne nun eine perfidere Version. Die Politik der EU hat über Jahre ein Situation geschaffen, in der die Brutalisierung einiger Internierter so voranschreitet, daß den Elenden heute Aggressoren aus den eigenen Reihen erwachsen sind. Das ist obszön!

Egal, in welcher Kultur wir aufgewachsen sind, welchen Prinzipien wir uns verpflichtet fühlen, welches Menschen- und Weltbild wir bevorzugen, egal, welche Sprache jemand spricht, diese Frage können wir über jede nur denkbare Grenze hinweg erörtern: Was schulden wir Menschen einander?


-- [Die neue Bourgeoisie] --
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