19. Dezember 2020
Wildwasser
Der Stand unserer Dinge ist mir nicht ganz geheuer. Aber
ich bin sturmerprobt und hab immer noch das Gefühl: mein
Leben gelingt. Doch dieses Gefühl zeigt merkwürdig
Aussetzer. Dabei tut sich etwas auf, von dem ich sagen muß:
ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich weiß nicht
einmal, was es ist.
Das ließe sich als gute Nachricht deuten. Ein Kerl von Mitte 60
und erlebt noch Momente, die ihm so neu wie unklar sind. Darüber
sollte ich mich nicht beklagen. Doch es ist mir nicht geheuer.
Die Vorstellung, ein abgebrühter Mensch zu sein, gefällt mir
wenig. Ich weiß zugleich, das bietet Sicherheit, wenn alles
unsicher wird. Also was, verflucht!, soll ich mir wünschen?
Ohne meine Arbeit wäre ich derzeit ziemlich verloren. Jeden
Tag, wenn ich aufwache, freue ich mich auf die kommenden
Stunden. Ich hasse es aber, wenn mir für mein Gefühl die Kraft
viel zu früh ausgeht, was heißt: mein Konzentrationsvermögen
einbricht.
Dabei ist das fast unerheblich, weil ja der
Output immer noch paßt, auch wenn ich derzeit öfter ganz nahe an
eine Deadline heranarbeite. Dabei macht sich all die Erfahrung
bezahlt, denn ich muß mich kaum sorgen, daß ich es im letzten
Abdruck nicht schaffen würde, zu liefern was vereinbart war.
Ich möchte mit dieser kleinen Skizze eine merkwürdige
Ambivalenz ausdrücken, die ich so bisher noch nicht kannte.
Meine Angelegenheiten und Geschäfte sind von eben jenen
Problemen belastet, die nun wohl alle kennen. Ich genieße den
Vorteil, daß ich nicht fürchten muß, dabei unter meine jetzigen
Möglichkeiten abzustürzen. Dennoch wohnt Furcht in mir, die
beachtet werden will, die sich Raum nimmt.
Ich nenne das meine Dämonen, mit
denen ich lebe. Sie sind ein schillerndes Rudel, stammen
aus verschiedenen Lebensabschnitten, blieben von
unterschiedlichen Bedrohungen bei mir. Das Interessante
an diesem Rudel: es bedroht mich nie, es ängstigt mich
bloß gelegentlich.
Was mir meine Sturmfahrten
bisher eingebracht haben? Ein Leben mit zwei Instanzen.
Die eine ist diesen Ängstigungen ausgeliefert. Die
andere blickt müde lächelnd auf diese Abteilung und
macht mit dem Notwendigen weiter. Ich weiß heute, daß
solche zweiwertige Ausstattung ein Glücksfall ist.
Und die Ängste? Das ist ein wenig wie seltsame
Speisen oder heftig Drinks. Sie haben verschiedenen und
eigentümliche Geschmäcker, die ich im Leib wahrnehme.
Der Geschmack der Angst. Verwirrend? Ich erkläre es mir
so: Angst ist etwas sehr Physisches. Sie teilt sich mir
über alles Sinne mit, also auch mit Geschmäckern. Aber
ein Geschmacksinn im Leib, jenseits des Kopfes? Angst
scheint ein eigenwilliges Phänomen zu sein.
Alltagsgerede sagt, man würde oder solle seine Angst
bekämpfen. Ich glaub das nicht. Angst, das bin immer
auch ich. Weshalb sollte ich gegen mich kämpfen? Ich
halte diese Strategie für Unsinn und eine Vergeudung
verfügbarer Kraft.
Ich mach das anders. Es gibt
für mich keine treffendere Metapher als die
Wildwasserfahrt entlang all der höchst unterschiedlichen
Passagen. Da gibt es auch Packeis. Man steckt fest und
fürchtet zurecht, davon erdrückt zu werden. Angst ist
eine Reise.
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