9. Dezember 2020 II
Homo sapiens sapiens
Chris Hildebrandt stand nach seinem Besuch im Kunstforum
Wien unter dem Eindruck der Werke von Gerhard Richter. Er
notierte dazu gestern auf Facebook: „Ohne Kunst und
Kultur sterben Gesellschaften an Armut des Geistes. Mit
Kunst und Kultur gibt es ein echtes Licht am Horizont.“
Da ich gerade für ein SPLITTERWERK-Projekt tief in diesen Themen
stecke, fällt mir als irritierend auf, was da gesellschaftlich
entweder schiefgegangen oder nicht auf den Punkt gekommen ist.
Seit dem Neolithikum sind das symbolische Denken und die
Kunstpraxis insofern manifest, als uns ausreichend Artefakte
erhalten blieben, diese Prozesse ausführlicher zu betrachten.
Es vergeht kein Jahr ohne aufregende Berichte über neue
Entdeckungen. So war eben erst (am 6.12.2020) zu lesen: „Auf
einer 13 Kilometer langen Felswand in Kolumbien erstreckt sich
eine bis zu 12.500 Jahre alte Gemäldegalerie“. [Quelle]
Zur Orientierung: die Zeit zwischen 12.000 bis 9.500 v. Chr.
gilt als Proto-Neolithikum. Mit Neolithikum wird die Ära der
Jungsteinzeit bezeichnet, in der sich ein Teil der
steinzeitlichen Jäger und Sammler zu Bauern entwickelt haben.
Die verschiedenen Lebenskonzepte bestanden lange Zeit
nebeneinander. Sie waren für viel Konfliktstoff gut. Das bildet
sich sogar in unserer Mythologie ab, etwa im tödlichen Konflikt
zwischen dem Ackerbauern Abel und dem Hirten Kain.
Dazu paßt aus meiner aktuellen Projektkorrespondenz mit dem
SPLITTERWERK: „diesen herrn hatten wir heute in der digital
lounge unseres entwufsstudios an der kunstakademie zu gast.
thema war lynn margulis versus charles darwin. superspannend!“
Es meint den sehr
empfehlenswerten Clip: „Drogen
des Fortschritts“ (Der Evolutionsbiologe Prof.
Dr. Josef H. Reichholf: „Warum die Menschen sesshaft
wurden“).
Doch des Menschen Fähigkeit zum
symbolischen Denken, zur Abstraktion, ist weit älter.
Derzeit kann das für einen Zeitraum von über 70.000
Jahren belegt werden. Es ist also im Grunde nicht so,
wie Hildebrandt annahm: „Ohne Kunst und Kultur
sterben Gesellschaften an Armut des Geistes.“ Es
ist fast umgekehrt.
Ohne Kunst und Kultur ist die
Spezies nicht begründbar, nicht darstellbar. Ohne Kunst
und Kultur hätten wir es nicht mit dem modernen Menschen
zu tun, müßten also auch alle Errungenschaften und
Vorteile aufgeben, die unsere Existenz vom Leben im
Neandertal unterscheidet.
Der Homo sapiens
sapiens folgte einst dem Homo sapiens neanderthalensis.
Die ältesten Neandertaler-Funde sind zwischen 130.000
und 120.000 Jahre alt. (Die Funde aus dem Neandertal
werden mit etwa 42.000 Jahren datiert.)
Was ich
damit sagen möchte? Wir haben keine Freiheit, um uns als
Gesellschaft für Akzeptanz von oder Verzicht auf Kunst
und Kultur zu entscheiden. Kunst und Kultur sind
konstituierend für das, was wir als zeitgemäße Menschen
verstehen. Wir SIND Homo sapiens sapiens DURCH Kunst und
Kultur.
Wer Kunst und Kultur heute als eine Art
Beiwerk deutet, als ein Orchideenfach, den anderen
Genres nachgeordnet, äußert sich als bornierter
Ignorant, dem die Geschichte der Menschheit schleierhaft
ist. Wer Kunst und Kultur zu Mägden des Marketings
macht, ist ein Barbar.
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