18. November 2020

Schreihälse

Ich nehme inzwischen zur Kenntnis, daß mir meine Vorstellungen von diesem oder jenem „Wir“ abhanden gekommen sind. Ein Mythos, der in meinen Kindertagen kursierte, ist verblichen. Es hieß damals, Not würde die Menschen zu mehr Zusammenhalt bringen. Davon kann heute offenkundig keine Rede sein.

Ich vermute, diese Kolportage aus den 1950er- und 1960er Jahren kam aus einer kollektiven Armutserfahrung breiter Gesellschaftskreise, die gut hundert Generationen zurückreichte und bei uns erst nach dem Zweiten Weltkrieg gebannt werden konnte. (Übrigens vielfach auf Kosten anderer.)

Derzeit machen immer mehr Leute eine Art kollektive Erfahrung des Wohlstandsverlustes. Das schweißt uns nicht zusammen, das trennt uns.

Ich dachte eben an Bilder aus der Verfilmung von „Früchte des Zorns“. John Steinbeck hatte mit seinem Roman eine atemberaubende Schilderung der Verelendung großer Gruppen von Menschen geliefert. Die „Oakies“, Menschen aus Oklahoma, erlebten ab dem Ende der 1920er Jahre eine brutale Dürre, mußten ihren vertrauten Lebensraum verlassen, um zu überleben.

Oder. Vor allem aus amerikanischen Spielfilmen kenne ich dieses Motiv eines ankommenden Tornados. Die Gefahr ist gut erkennbar. Menschen haben längst Erfahrungen gemacht, wie man sich schützt. Die Gemeinschaft steht in diesen Angelegenheiten zusammen.

Die aktuelle Pandemie beruht auf einer unsichtbaren Bedrohung, welche sinnlich nicht wahrnehmbar ist. Der konkrete Virenkontakt führt möglicherweise erst nach einer Weile zu Symptomen. Man muß an der Infektion nicht erkranken, kann aber – falls man dieses Glück hat – dennoch andere anstecken.

Wer erkrankt, wird diesen oder jenen Verlauf erwischen, wird eventuell daran sterben oder wird als genesener Mensch irreversible Folgeschäden ertragen müssen. Das alles ist möglich und schon belegt. Wir haben bisher noch kein Mittel, dieses Virus zu bekämpfen, sobald es in einen Wirtskörper eingedrungen ist. (Das tut es übrigens nicht aus eigener Kraft, sondern wenn wir es durch unser Verhalten weiterreichen.)

Am 15. November, kurz vor der amtlichen Verschärfung des Lockdown Nummer zwo, schrieb Pädagogin Ulrike Drescher auf Facebook: „Ehrlich, ich bin froh, dass die Schulen schließen. Es ist kein sicherer Ort, um zu arbeiten. Jeden Tag warte ich, dass es mich erwischt.“

Ist es nicht völlig unakzeptabel, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, wenn man weiß, welche Konsequenzen das haben kann? Da tun sich Dilemmata auf, die uns zur Abwägung verschiedener Güter zwingen. Das heißt auch, damit der Laden rennt, müssen manche meiner Mitmenschen Risken hinnehmen, die ich mir fernhalten kann.

Dabei fiel mir auf, wie zynisch jene handeln, die uns via Social Media ausrichten, man bräuche doch nur sein Immunsystem stärken, dann sei Covid-19 kein Problem. Wie ekelhaft darf man eigentlich sein, bis man sich selbst nicht mehr erträgt? Und warum wagt jemand, das Maul aufzureißen, ohne ein Risiko eingehen zu müssen, das er anderen empfiehlt?

Denn das ist inzwischen klar: sehr gefährdete Leute, wie etwa Klinikpersonal, erzählen uns längst via Medien, was sie erleben, ertragen, befürchten. Da wäre es schon hilfreich, wenn jene, die sich für klüger halten, ihre Kommentare runterschlucken, statt damit das belastete Klima zusätzlich zu vergiften.

Post Scriptchen:
Wenn ich so eine Kanaille in die Schranken weise, plärrt das Herzchen: „Zensur!“. Solche Leute haben also auch keine Ahnung a) von Geschichte und b) wo sie leben, drängen sich mir mit ihren gefühlten „Klarheiten“ auf. Da brüllt mein Herz: „Halt die Fresse!“

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