14. November 2020
Symbolisches Denken
„Wir werden in der Lehrveranstaltung zurückschauen auf
die Utopien der Moderne des 20. Jahrhunderts, die
Sozialutopisten Anfang des 19. Jahrhunderts und noch viel
weiter zurück bis ins Jahr 1516 zu Thomas Morus und seinem
Roman ‚Utopia‘, der diesen Begriff für die nachfolgenden
Jahrhunderte geprägt hat.“ So lautet eine Passage im „Studio
Brief“ des Baukunststudios, der heuer mitten im ersten
Lockdown erschien.
Ich bin in sehr guter
Gesellschaft. Das erweist sich als ein äußerst stabiler
Faktor meines Fundaments in unsicheren Zeiten. Ich befinde
mich über weite Strecken völlig in der Stille und ahne: das
läßt einen etwas merkwürdig werden. Aber wir haben
inzwischen eine telematische Salonkultur entfaltet.
Da läßt sich gut reden, streiten, arbeiten, da läßt sich gut
denken, was alles die Zuversicht stärkt. Ich fühle mich auf
Zuversicht sehr angewiesen, denn die Erosionen im Kulturbetrieb
haben vor rund zehn Jahren massiv eingesetzt und sich ab 2015 zu
einer Wettbewerbssituation verdichtet, die ich bis heute
weitgehend geleugnet sehe.
Dieser Mangel an
intellektueller Selbstachtung wirkt an vielen Stellen, erweist
sich als kulturpolitische Katastrophe, ist aber vielleicht ganz
banal ein Stück des Ausdrucks dieser weitreichenden
Modernisierungskrise, in der wir uns befinden.
Dabei war
diese Pandemie kein Auslöser, sondern bloß eines der Phänomene,
über die sich uns mitteilt, daß wir inhaltlich ein wenig
schwächeln. Ich finde es sehr anregend, die unterschiedlichen
Reaktionen auf eine unsichtbare, sinnlich erst einmal nicht
erfahrbare Bedrohung zu erleben.
Ich spüre es nicht, falls ich mit dem Virus in Kontakt
gekommen bin. Es braucht seine Zeit, in meinen Körper zu
finden. Ich kann dabei selbst längst ansteckend sein, ohne
Symptome zu haben. Ich muß nicht erkranken, falls ich
infiziert bin. Wenn ich erkranke, ist höchst ungewiß,
welchen Verlauf ich bekomme und wo in meinem Körper der
Abwehrkampf des Immunsystems stattfindet.
So haben
wir einige Bedrohungen um uns, die wir sinnlich noch nicht
klar erfahren und erfassen. Ich denke da an Klimaprobleme,
Flüchtlingskrisen, allerhand Ereignisse, bei denen Menschen
sterben, ohne daß ich es sehe, spüre, erlebe.
Deshalb
finde ich diesen gesamtgesellschaftlichen Umgang mit der
Pandemie so interessant, denn wir sehen ja, tausende
Menschen leugnen die Bedrohung, vor der aber niemand sicher
ist, wie die steile Kurve der aktuellen Infektionszahlen
ahnen läßt.
Hier also meine Stille, denn oft spreche ich mehrere Tage kein
einziges Wort mit jemandem. Aber der telematische Salon, diese
internetgestützten Kommunikationskanäle, damit ich im Abstand
zur Welt nicht den Verstand verliere.
Dabei jüngst mein
Konferenzchen mit Edith Hemmrich und Mark Blaschitz, die für das
SPLITTERWERK stehen. Wir hatten zuletzt 2018 eine gemeinsame
Session:
Martin Krusche spricht. Ikarus auf Asphalt. Das
Rasen. Ein Text.
Da kann ich nun inhaltlich
andocken. Leistung: Expertise „Teilen von Raum“. So unaufgeregt
klingt unsere getroffene Vereinbarung. Das hat mit einem
Forschungsprojekt im „Reallabor“
zu tun.
Uns verbindet nun schon eine lange Geschichte des
Austausches, der Debatten. Die Kunst und das Leben, die Welt.
Für das „First AiR Symposium“ im heurigen September verfaßten
Blaschitz und Hemmrich ein Positionspapier, in dem es hieß:
„Seit Jahrtausenden haben Menschen Städte als Schutz vor einer
feindlichen Umwelt gebaut. Heute ist es viel mehr unsere Aufgabe
– vor allem auch als Architektinnen und Architekten ‒ die Erde
und ihre Bewohner vor den sich im Wildwuchs ungebremst
ausbreitenden Metropolregionen zu schützen.“
Es
braucht Zuversicht; und daß wir uns auch jenen Bedrohungen
stellen, die für uns sinnlich nicht erfahrbar sind. Die Natur
hat uns symbolisches Denken entwickeln lassen. Wir haben über
Jahrtausende unser Abstraktionsvermögen geschult; mindestens
seit dem Neolithikum. Kann man auch vergeuden. Muß man aber
nicht.
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