6. November 2020
Wir Kinder
der Barbaren
Manchmal stockt mir der Atem.
Manchmal bin ich schon nach einem halben Tag sehr müde. Ich
spüre, wie sich eine Traurigkeit vertieft. Die letzten fünf
Jahre waren im ganzen Land ein zunehmendes Kräftespiel
unbewältigter Problemlagen. Inzwischen zeigen uns allerhand
laufende Verfahren, wie viel an Inkompetenz diverse
Funktionseliten kaum noch verbergen können; bis in höchste
Regierungskreise.
Was dagegen hilft? Ich kenne nur
diesen wirksamen Weg: Nischen aufmachen und beleben, in
denen Achtsamkeit, Sachkompetenz und ein fairer Umgang
miteinander regieren. Dazu Themenschwerpunkte von Relevanz.
Wer das laut behauptet, weckt mein Mißtrauen. Was hab
ich nun über Jahre alles an Propaganda in die Ohren geblasen
bekommen! Wer aber so handelt, ist schnell erkennbar und
bedarf keiner Marktschreierei. Wo die Taten sprechen, finde
ich mich zurecht. Den Sprücheklopfern mag ich nicht mehr
zuhören.
Die Berichte zum Mordschützen von Wien haben
mir so deutlich in Erinnerung gebracht, wie ein
automatisches Gewehr klingt. Diese harten Schläge, vor denen
sich die Luft duckt. Mir gingen in den letzten Stunden zwei
Fragen im Kopf um: +) Was, wenn es mich getroffen hätte?
+) Was, wenn es mein Sohn gewesen wäre?
Ich bin das Kind von Barbaren. Daher weiß ich gut, daß
Schuld und Verantwortung zwei verschiedene Kategorien sind.
Schuld kommt aus Taten oder schuldhaften Unterlassungen.
Darüber haben wir als Gesellschaft allerhand Klarheiten. Mit
Verantwortung ist es kniffliger; doch auch klärbar: sie
bemißt sich an dem, was ich auf mich nehmen kann.
Meine Vaterschaft hat mir ein irritierendes Gefühl
eingebracht. Eines Tages schien mir: irgendwie sind die
Kinder, egal wessen Kinder, unser aller Schutzbefohlene. Das
meint, sie sind in etlichen Situationen auf unseren Schutz
angewiesen, ganz unabhängig davon, welche Eltern das gerade
nicht leisten können. (Sie kennen dieses Bonmot, es brauche
ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen?)
Aber was heißt es praktisch, daß sie alle unsere
Schutzbefohlenen seien? Wie ist das umzusetzen? Heute denke
ich: das klappt über individuelle Lösungen. Und, wie oben
zum Thema Verantwortung angedeutet, es bemißt sich an dem,
was ich auf mich nehmen kann. Wenn ich es nicht tragen kann,
mögen andere da sein, die das schaffen.
Da ich nur
das an Verantwortung übernehmen kann, was mir tragbar und
erträglich ist, bleibt das Gemeinwesen von so großer
Bedeutung. Deshalb sind solche Dinge einer Gemeinschaft
anempfohlen, deren verschiedene Mitglieder unterschiedliche
Ressourcen zur Verfügung haben.
Um das als relevant
zu erleben, hätte es nicht erst des Attentäters von Wien
bedurft. Was diese Schüsse an Solidaritätsbekundungen
ausgelöst haben, sollte sich eigentlich in den kommenden
Wochen in unserem Alltag beweisen; oder es war hauptsächlich
Pose.
Was den Täter angeht, tagt derzeit eine Art
„Volksgerichtshof“ in den Social Media. Es hagelt
Fernbefunde, die kein Professional der Psychologie und des
Umgangs mit gefährlichen Menschen abgeben würde. Wie sehr
sich doch der Pöbel freut, wenn jemand in der Arena landet.
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