3. November 2020
Lockdown
Seit null Uhr befinden wir uns im
zweiten Lockdown dieses Jahres. Es war für mich ab Samstag
ein Hineinfallen in die Stille, in der ich mich eben
einrichte, wie man sich in einem Wochenendhäuschen
einrichtet; als etwas Temporäres.
Wir haben, je nach
Branche und Lebenssituation, höchst unterschiedliche
Bedingungen, um durch solche Wochen zu kommen. Ich reise als
Künstler zwar durch ein wirtschaftliches Fiasko, sehe das
aber als den Preis für Rahmenbedingungen, die jetzt kaum
vorteilhafter sein könnten.
Meine Wohnung habe ich zum
Raumkreuzer umgedeutet, die Reise hat ein ungewisses Ziel.
Energieversorgung und Kommunikationssysteme sind intakt, ich
muß aber bald wieder Vorräte bunkern.
Um 6:40 Uhr bin
ich mit meinem Kübel Kaffee gerade im Büro angelangt, als
ein ORF-Meme anzeigt, daß aus Wien nun ein drittes
Todesopfer bestätigt wurde. Der Begleittext besagt: „In der
Innenstadt der Österreichischen Bundeshauptstadt hat sich
gestern abend ein islamistischer Anschlag ereignet. Dabei
sind mindestens zwei Männer und eine Frau um Leben gekommen.
Zahlreiche weitere Menschen müssen im Krankenhaus behandelt
werden.“
In der Timeline eines meiner
Facebook-Kontakte kommentierte eine junge Frau: „Gebt's mir
ne Waffe, ich mach das freiwillig und helfe gerne“. Was für
ein Mumpitz! Es herrschen stellenweise ziemlich drollige
Vorstellungen von einem Feuergefecht mit einem Aggressor,
der zu sterben bereit ist. (Ich bin heilfroh, daß der
Waffenbesitz in unserem Land sehr strikt geregelt ist.)
Publizist Florian Klenk postete gegen 7:00 Uhr: „Ja,
wir haben Angst. Der Tod kam uns nahe. Dort, wo wir nach
Redaktionsschluss oft gemeinsam zu Abend essen, im
Restaurant ‚Salzamt‘ nahe dem jüdischen Tempel, liegt nun
ein Opfer in seinem Blut.“
Ich erfahre weiter: ein viertes
Opfer sei inzwischen verstorben, sieben Personen
lebensgefährlich verletzt. (Die Verletzten wurden auf
mehrere Spitäler aufgeteilt.) Wir haben also dieser Tage
eine hohe Verdichtung der Anlässe, den Status quo unserer
Gesellschaft zu überdenken, um aktuell zu klären, wie eine
Gemeinschaft dieser brisanten Mischung an Bedrohungen
wirksam begegnen kann.
Terror trifft einzelne Opfer
direkt, aber er zielt auf die Köpfe aller. Ich empfinde es
als fast verstörend, wie nun in einer Nacht – an der
Schwelle zum Lockdown - diese zwei Arten der Bedrohungen
zusammengefunden haben.
Die Pandemie, in der man den
ersten Kontakt mit der Gefährdung nicht sinnlich wahrnehmen
kann, und der bewaffnete Aggressor, ein Mörder, der wahllos
tötet. Was den Umgang mit der Pandemie angeht, üben wir seit
Monaten, auf welche Arten die verschiedenen Lager mit ihren
teilweise einander massiv widersprechenden Vorstellungen zu
einander angeordnet werden können.
Was den Mörder
angeht, hat sich für die Exekutive nichts geändert. In der
direkten Konfrontation bleibt: abschrecken oder entwaffnen.
Das bedeutet: er gibt auf oder wird getötet. Wir sind
allerdings vom Schicksal verwöhnt. Daß man als Zivilperson
auf den Straßen in so eine Konfrontation geraten könnte,
kannten wir bisher hauptsächlich aus den Nachrichten anderer
Länder.
Ein erschüttertes Österreich in der Pandemie,
mit einander streitende gesellschaftliche Gruppierungen,
wirtschaftliche Probleme, Gewalt auf den Straßen, der
boomende Antisemitismus… ich weiß noch nicht, was mir das
bedeutet. Aber ich habe Glück, kann in meinem Raumkreuzer
ungefährdet darüber nachdenken. |
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