26. Oktober 2020
Nach Jahrzehnten…
„Experte
kritisiert Coronavirus-Strategie: Alles versäumt worden, was
irgendwie versäumt werden kann“. Merken Sie was? Solche
Sätze lassen sich praktisch blind auf jede Problemlage
anwenden. Damit macht man nichts falsch. Das sagt überhaupt
nichts und trifft (fast) immer.
Oder: „Ein paar
Mutige trauen sich den Mund wenigstens noch aufzumachen.“
Post aus Nordkorea? Aber nein! Das kam aus meiner nächsten
Nachbarschaft. Wird die Gegenwart von gebildeten Menschen in
solchen Sätzen beschrieben, dann brauche ich nicht
nachzudenken, welche Verkürzungen simplere Gemüter
bevorzugen.
Oder ich lese Statements von Leuten, die Nutznießer
beziehungswiese Gefolgsleute regionaler Politikformationen sind,
da hübsch das Maul halten, aber sich via Social Media am
politischen Personal der Bundesebene abarbeiten. Das nennt man
wohl differenzierte Sichtweise.
Stell Dir vor, es
herrscht allgemeine Verzweiflung und Du gehst nicht hin!
Zugegeben, ich wäre aktuell gerne unbeschwerter, sorgloser, auch
vergnügter. Ich wäre lieber finanziell bessergestellt, ohne
Bedenken, wenn ich vor die Tür gehe, von Freundinnen und
Freunden umgeben, die nicht abgekämpft wirken oder gar
entmutigt.
Aber so ist es nicht. Also weiß ich
wenigstens, welches Jammertal wir verlassen möchten. Oder doch
nicht? Ist dieser Jammer unsere eigentliche emotionale Heimat?
Glauben Sie mir, am Verzicht hab ich genauso wenig Freude wie
irgendwer und Einschränkungen sind ein Ärgernis. Aber!
Relationen!
Ich wurde 1956 geboren. „Da Ruß“ ist nicht
gekommen, „Die gelbe Gefahr“ („Da Chineser“) blieb aus.
Ostblock. Der Warschauer Pakt. In Ungarn waren Raketen mit
atomaren Köpfen aufgestellt, auf Österreich gerichtet. Sie kamen
nicht. Der Kalte Krieg ließ uns viele Jahre von einer
Overkill-Kapazität sprechen.
Das Schreckensbild von einem
Dritten Weltkrieg gehörte zu meiner Kindheit, ist aber nicht
schlagend geworden. Wir hatten Vorstellungen zur Hand, daß es
dem Menschen dank erreichter Waffenkapazität gelänge, alles
Leben auf der Erde auszulöschen, außer vielleicht das der
Kakerlaken. Das wurde eingedämmt.
Stichworte wie Biafra
und Bangladesh ließen uns einst bemerken, daß man es mit der
Geburt geographisch ganz schlecht erwischen konnte. Tibet? Es
scheint mir nicht nötig, diese Aufzählung fortzuführen. Ich
durfte im Kielwasser des Marshall-Plans unbehelligt zur Welt
kommen, obwohl meine Leute ein davor beispielloses Verbrechen an
der Menschheit begangen hatten.
Ich durfte in diesem
Winkel Europas aufwachsen, eines Europas, das
sicherheitspolitisch bis vor wenigen Jahren noch ein Protektorat
der USA gewesen ist. Ein Europa, das heute noch von den Früchten
einiger Jahrhunderte Kolonialgeschichte zehrt, als unsere Leute
die Welt ausgeplündert haben. An uns sind Plagen und Nöte von
furchterregendem Ausmaß vorbeigezogen, ohne uns zu treffen.
Selbst diese merkwürdig verbrämte Weltwirtschaftskrise,
2008/2009 von einigen Ereignissen wie dem Crash der Lehman
Brothers ausgelöst, hat unsere Existenzen zwar belastet, aber da
blieb die letzten zehn Jahre eine Menge Spielraum, diese
Belastungssituation zu gestalten.
(Wo wird noch von AIDS gesprochen?)
Vor dem Hintergrund
dieser vorteilhaften Erfahrungen auf unserem Weg quer durch das
20. Jahrhundert, um die Höhe der Zeit zu erreichen, bin ich
inzwischen einfach fassungslos, welches Ausmaß an Gezänk, Wut
und würdelosem Umgang miteinander diese Pandemie in meinem
Umfeld ausgelöst hat.
Ich muß annehmen: wenn nicht
reicht, was wir haben, haben wir ein Problem, denn mehr könnte
es bloß noch auf Kosten anderer werden…
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