15. Oktober 2020

Du Opfer!

Ich hab den gestrigen Eintrag als kleine Referenz an Historiker Philipp Blom nach einem seiner Bücher mit „Der taumelnde Kontinent“ überschrieben. Derzeit halte ich meinen Fokus noch für ein Weile auf das Jahr 1909 gerichtet, denn das ergab offenbar einen Angelpunkt von besonderer Wirkmächtigkeit.

Es gibt eine Menge Hinweise darauf, daß Technologiesprünge immer auch erhebliche ideologischen Konsequenzen haben. So verändern sich Wirtschaft, Sozialgefüge und Kultur im Wechselspielt mit politischen Phänomenen.


Ich denke, die technischen Entwicklungen, wie sie um 1909 manifest waren, schufen Rahmenbedingungen, daß aus einer Konfrontation von Österreich und Serbien statt eines zeitlich und räumlich begrenzten Konflikte der Große Krieg werden konnte.

Transportmittel und Waffentechnik gaben den Ambitionen von Regierungsmitgliedern verschiedener europäischer Mächte ganz neue Möglichkeiten. Amerika hätte sich ohne entsprechende Transportkapazitäten und das Tempo der neuen Ära kaum auf diesem Kriegsschauplatz exponieren können.

Das davor gelaufene Wettrennen um technische Innovationen hatte erst einmal England als die Industriemacht Nummer 1 der Welt reüssieren lassen. Das änderten in einem Entwicklungswettlauf quer durch das 19. Jahrhundert vor allem Deutschland und die USA.

Als das 20. Jahrhundert noch sehr jung war, hatten die deutschen Hohenzollern und die Habsburger Österreichs Monarchen in den Sätteln der Macht, die zählten eindeutig nicht zu den hellsten Kerzen auf der Torte.

Das multiethnische Habsburgerreich war in Sachen Ethnien nach Rußland der zweitgrößte slawische Staat der Welt. Der schrullige Willem zwo des jungen, noch wenig gefestigten, Deutschlands schien sich mit unserem operettenhaften Franz Josef einig, daß sie in Europa für eine deutsche Völkerschaft in Konkurrenz zu den Slawen stünden.

Was sich folglich mit zwei Weltkriegen in unsere Familiengeschichten brannte, wird auch als Zweiter Dreißigjähriger Krieg Europas angesehen. (Der erste hatte den Kontinent von 1618 bis 1648 erschüttert.)

Protestanten gegen Katholiken, Deutsche gegen Slawen, Christen gegen Juden bei jeder denkbaren Gelegenheit, Herrenmenschen gegen Untermenschen, Christen gegen Muslime, die Politik ist beim Durchdenklinieren der Feindbilder auf keine Innovationen angewiesen. Bewährtes wird bloß leicht variiert.


Ein Sprung in die Gegenwart, bei dem mir die Blicke zurück Orientierungshilfen sind: Ich finde es bemerkenswert, daß wir in einer Zeit leben, die zwei Begriffe zu Schimpfwörtern werden ließ, welche mit großer Abschätzigkeit beladen wurden:
+) Du Opfer!
+) Du Gutmensch!

Deshalb bemerkenswert, weil sich das in einer Gesellschaft durchgesetzt hat, in welcher die Generationen meiner Eltern und Großeltern zu verantworten hatten, daß im Völkerstrafrecht eine epochale Neuerung notiert wurde.

Der Tatbestand eines „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ war erstmals 1945 im Londoner Statut zu den Nürnberger Prozessen formalisiert worden. Es wird geahndet, wenn jemand „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung“ Verbrechen begeht, die unser Strafgesetzbuch im § 321a StGB Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert. [Quelle]

Im Kielwasser dieser historischen Zusammenhänge hat es nicht gar so lange gedauert, um Opfern und guten Menschen, was immer man dafür hält, etwas Verachtenswertes zu unterstellen.

P.S.:
Die Bilder auf dieser Seite stammen aus dem FilmMetropolis (1927) von Fritz Lang.

-- [Pfeifer im Sturm] --

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