5. September 2020
Mein Kontinent VI
Menschen. Haben. Interessen.
Punkt! Ich darf annehmen, daß wir alle interessengeleitet
handeln. In dem Zusammenhang kommt es dann auf individuelle
Lernprozesse und Erfahrungen an, darauf, welche Balance
jemand individuell zwischen Eigennutz und Gemeinnützigkeit
hinbekommt.
In dieser wechselwirksamen Beziehung ist
die Frage nach Solidarität zu Hause. Ich hab dieses
Wort – Solidarität – im heurigen Jahr oft vernommen. Aber
ich konnte im Steirischen auf dem Kulturfeld keine
nennenswerten Beispiele entdecken. Vielleicht ist dieses
Wort vor allem eine gefällige Duftmarke, ein
Dekorationsgegenstand, wahlweise ein Distinktionsmerkmal.
Franz
Wolfmayr hat gestern für mich gekocht. Wir saßen dann unter
Bäumen, während der Sommer sich noch einmal kraftvoll gegen den
ankommenden Herbst aufgebäumt hat. Ich kenne Franz seit den
frühen 1980er Jahren. Das bedeutet, er ist mit diesem
Zeitfenster, das mich derzeit so beschäftigt, über das ich
Klarheit suche, gut vertraut.
Der erfahrene Pädagoge
befaßt sich unter anderem mit Fragen nach dem Menschenbild und
nach gelebter Praxis. Dabei blieb eines seiner Hauptthemen über
Jahrzehnte das Ringen um Klärung welcher Fehler darin ruht,
Behinderte als „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ zu
bezeichnen, im Englischen „persons with special needs“.
Es gebe keine „besonderen Bedürfnisse“ von Menschen,
beharrt Franz, denn wer zu den Menschen gezählt wird, hat
Bedürfnisse, wovon es eine Vielzahl gib. Die Zuschreibung des
„Besonderen“ hat hier faktisch die Funktion einer
Stigmatisierung.
An diesem Thema
interessiert mich sehr, was eben Zuschreibungen
bewirken sollen, um letztlich Hierarchien aufzubauen
und zu legitimieren, wobei dann gerne die
Intentionen dazu verschleiert, sogar vergessen
werden.
Genau dann, unter verdeckten und
vergessenen Intentionen, wird plötzlich als
konstituierendes Merkmal eines Wesens angenommen,
was eigentlich eine Zuschreibung von außen ist.
Die Zuschreibung von außen ist ein Mittel, um
Definitionsmacht auszuüben. Das nutze ich, wenn ich
Definitionshoheit etablieren will. Kurz: ich darf
sagen, was es ist. Wer mir widerspricht, ist ein
Schuft, ist entweder ein Vernunftflüchtling oder ist
irre. (Das war jetzt Michel Foucault für die
billigen Plätze.)
Das Thema halte ich deshalb
für so brisant, weil wir gerade in einem Abschnitt
leben, der von allen Arten Zuschreibungen erfüllt
ist, davon sehr viele brüllend und mit erhobenen
Fäusten vorgetragen.
Das ist übrigens keine Domäne von
Verschwörungs-Ministranten und durchgeknallten
Eiferern. Ich erinnere mich der wenigstens letzten
fünf Jahre als einer Phase, in der das immer
heftiger wurde. Es nahm auch unter gebildeten
Leuten, unter reflektierenden Wesen, sprunghaft zu.
Dieses wechselseitige Zustellen von Befunden,
wenn sich wo Dissens auftat. Die Blitzdiagnose. Also
keine Diagnose aufgrund der Untersuchung einer
Situation, den eigenen Part in die Betrachtung
einschließend, sondern eine forsche Zuschreibung.
„So bist Du!“ „Das bist Du!“
Damit
wären wir dann auch schnell beim Mittel der
Selbstdefinition durch Feindmarkierung. Ich habe
Franz gefragt, ob denn „soziales Lernen“ eher ein
umgangssprachliches Motiv sei oder etwas, das auch
in wissenschaftlichen Diskursen verankert ist. Es
gilt als bedeutendes Thema.
Wir müssen in
diesen Zusammenhängen komplexe Lernprozesse
absolvieren. Das gilt im Bereich der
Entwicklungspsychologie als unbestritten. Erst sind
wir alle Passagiere in einem Mutterleib. Die
Trennung ist ein Schock.
Es gehört zu den
radikalen Erfahrungen, wenn einem Kind dämmert, daß
sein Körper und jener der Mutter zweierlei sind, wie
sich da auch zwei eigene Wesen begegnen. Es nimmt
einige Jahre in Anspruch, bis halbwegs geklärt ist,
daß sich in meinem Leben nicht alles bloß um mich
dreht, daß auch noch andere Menschen mit ihren
Bedürfnissen und berechtigten Ansprüchen im Spiel
sind.
In diesen Jahren von 2010 über 2015
nach 2020 hat sich etwas fundamental verschoben. Wir
müssen ein Fließgleichgewicht zwischen den
verschiedenen Bedürfnissen und Ansprüchen offenbar
neu verhandeln.
--
[Ab
August 2020] [Die
neue Bourgeoisie]--
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