28. Juli 2020
Selbstdefinition?
In den letzten Tagen war meine
Facebook-Leiste von einer massiven Werbe-Offensive durchzogen.
Wenig überraschend, denn wann, wenn nicht jetzt, sollten Unternehmen
aller Art andrücken, um ihre Geschäfte wieder in Gang zu bringen?
Oskar L., Pensionist: Seine Kriterien erfahre ich nicht.
Ich habe mir erklären lassen, daß die
wirtschaftlichen Lockdown-Konsequenzen sich nun erst massiv entfalten
würden. Mindestens bis Mitte nächsten Jahres muß gezittert werden. Für
viele Geschäftsleute käme es nun darauf an, die gehabten Einbrüche
entweder abzufangen oder in die Pleite zu gehen. Kundschaft müsse
dringendst erreicht werden.
Ich klicke derzeit vieles in meiner
Timeline mit dem Vermerk „irrelevant“ weg, wenn es über die Tage zu oft
wiederkommt. Es stört mich erheblich, wenn sich das gleich Motiv
mehrfach in mein Blickfeld rückt. Amüsantes Detail: ich bekam jüngst
eine hohe Dichte an Werbung für Hosen.
Oskar L., Pensionist, empfiehlt implizit: Laßt uns
an der Oberfläche bleiben!
Nun dürfte allgemein klar sein, daß gerade Facebook eine riesige
Daten-Saugmaschine ist, um die gehorteten Informationen zu verwerten und
zu vermarkten. Das bedeutet, der Wirtschaft sehr genaue
Konsumenten-Profile zu liefern.
Mein Online-Verhalten, meine
Kommunikation im Web, all das wird laufend analysiert. Ich bin mit
Software verzahnt. Dazu gestern meine launige Notiz: „erstaunlich, wie
viel werbung für LANGE HOSEN mir hier auf den bildschirm kommt“.
Günther B.,
Lehrer: War für Promis Jause holen.
Das brachte mir eine überraschende Replik ein: „Wie kann man eine
solche geqwirlte Kacke posten.....“ Oskar L. ist keine dumpfe
Schnarchnase mit zu eng geratenem Horizont. Er hat für Festspiele und
Staatstheater gearbeitet, zeigt sich als Teil des Kulturlebens.
Dieser L. war nun so freundlich, mir ein weiteres kleines Detail zur
Illustration jener boomenden Spießerkultur zu liefern, die Kontext und
Subtext weitgehend ignoriert. Da wird einfach nach flüchtigem Blick
hingelangt. Knappe Ansagen auf Reizworte. Da weiß einer schon, er muß
nicht fragen, handelt die Sache zackzack ab.
Chr. R.,
Buchhalterin: Salopp behauptet, Belege fehlen.
Weshalb ist das erwähnenswert? Es ist exemplarisch. Ich gehöre ganz
sicher zu einer Minorität von Facebookies, die sich nicht in ein paar
schnoddrigen Sätzen erschöpft. Es läßt sich leicht überprüfen: fast
jeden Tag findet man bei mir eine frisch verfaßte Glosse, einen
Kommentar, ein kleines Feature. Darauf könnte man zu vielen Themen
eingehen.
Nein, nicht Oskar L., der sich bloß zwischendurch eine
kleine Spannungsabfuhr leistet, aber vermutlich keine zehn Minuten
solider Debatte zum angetippten Thema durchstehen würde. Weshalb macht
er das?
Klara S.,
Pensionistin: ...hat mich abonniert, um sich zu ärgern?
Mein naheliegender Schluß: Selbstdefinition durch Feindmarkierung.
Wenn er mir attestiert, „Kacke“ zu posten, meint das gewiß, er sei in
einer anderen, natürlich geistreicheren Liga zuhause, wofür allerdings
Belege fehlen.
Das ist ein populäre Strategie. Ich muß mich
selbst dabei nicht mehr mit intellektueller Selbstachtung und
Sachkenntnis beweisen, sondern betone meinen Rang per Verweis auf ein
Gegenüber, das abqualifiziert wird.
Mit diesem simplen Kniff kann
sich jede Hohlbirne aufplustern. Das Behauptete wird nicht belegt, wird
nicht bewiesen. Dieser deprimierende Mangel an Esprit läßt leider kein
interessantes Streitgespräch zu, läßt eigentlich gar nichts zu.
-- [Bourgeoisie]
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