24. Juli 2020

Der Revolüzzer

Ich brauche stets ein Weilchen, um den eigentümlichen Tonfall der Übersetzungen antiker Texte nicht mehr wahrzunehmen, einfach in die Geschichte hineinzufallen. Ich brauche solche Einlassungen auf die Vergangenheit, um mich besser orientieren zu können. Es zeigt mir zum Beispiel, welche Motive und Themen so viel Gewicht haben, daß sie über mehr als zweitausend Jahre präsent bleiben.



Aus "Antigone" von Sophokles

Es stellt mich in ein größeres Zeitfenster, worauf man selbst zwangsläufig im Bild sehr klein wird. Wenn aber nun das Ego mit kleinerer Silhouette aufgestellt ist, wird man – so scheint mir – viel beweglicher. Und immer wieder häng ich am Thema Gewaltverzicht.

Ich hab mir eben etliche Folgen einer vorzüglich gemachten Krimi-Serie angesehen:Gangs of London. Die finde ich aber in einem Aspekt besonders anstrengend. Es ist mir völlig neu, wie da Gewalttätigkeit inszeniert wird, mit welcher Choreographie dieser Schrecken sich breit macht.

Sind wir so? Ich fürchte, es ist zutreffend. Wo auf Kosten anderer expandiert wird, macht die Gewalttätigkeit schnell Quantensprünge. Das scheint auf alle Lebensbereiche zuzutreffen. Das heißt, ich finde es überall, wo jemand sich über andere Menschen erhebt, egal, ob in der Kleinfamilie, in einem Staat oder auf einem ganzen Kontinent.


Deshalb war ich eben wieder bei der Lektüre von Sophokles. Antigone hat sich solchen Zuständen entgegengestellt, hat deutlich gemacht, daß ihre Kriterien zu einem Ethos führen, über den sich selbst der König nicht hinwegsetzen kann.

Gewalterfahrung sät Gewalt. Das müssen wir nicht verhandeln. Es gilt als geklärt. Dabei ist es einerlei, ob man Gewalt ausübt, selbst erleidet oder bloß beobachtet. Bildgebende Verfahren, die einen Blick in unsere Köpfe erlauben, um zu überprüfen, in welchen Gehirnregionen Neuronen-Ensembles feuern, wenn es zur Sache geht, schaffen eine Menge Klarheit. Polemisch verkürzt: Gewalttätigkeit wird erlernt. (Wenn man von pathologischen Persönlichkeiten absieht.)

Das ist sicher nicht allgemeines Wissensgut. Was aber auch der letzte Agent der Blödheit inzwischen wissen könnte: Worte werden zu Taten. Jemand sagt es, irgendwer macht es. Gewalttätigkeit hat eben diese sprachliche Dimension.

Vorhin las ich bei einem Bekannten auf Facebook ein Statement, das ich in meiner Timeline a) gelöscht hätte, um b) dem Absender ein Stück Klartext mitzuteilen. Da steht: „Politiker und Medienmacher dieser Art sollten sich fest anschnallen , es wird Blei geben wenn sie so weiter machen!!!“

Man möchte fragen: Wie meinen Sie denn das? Und wie hätten Sie es gerne? Würden Sie vorzugsweise selbst die Flinte durchladen, anlegen und abfeuern? Eigentlich sollte klar sein, daß ein Verbreiten von Gewaltphantasien via Massenmedium auf keinen Fall und in keiner Weise akzeptabel ist.

Eigentlich möchte ich annehmen, man müßte das einem Mann, der sich auf einem Foto via Facebook gemeinsam mit Jane Goodall zeigt und außerdem reihenweise den Dalai Lama zitiert, nicht erklären.

Hier also ein weiteres Beispiel zur Illustration dessen, was ich mit der neuen Bourgeoisie meine, mit dieser Spießer-Kultur, in der sich mancher mit Wohlfühlsätzen behängt, in Sprücheklopferei ergeht, auf Kohärenz pfeift.

So möchte sich einer als Verteidiger der Demokratie hervortun, tut es so eifrig, daß er sich selbst nicht mehr hört, während er zum Wasserträger der Tyrannis wird. Bliebe noch das mit dem Blei für Politiker wie Medienmacher zu klären. Na, er wäre nicht das erste Großmaul wie der Lampenputzer, den Erich Mühsam besungen hat: „…Und er schrie: ‚Ich revolüzze!‘ / Und die Revoluzzermütze / Schob er auf das linke Ohr, / Kam sich höchst gefährlich vor“.

-- [Bourgeoisie] --

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