18. Juli 2020
Gnadenstand statt Rechtsanspruch
Korruption gedeiht hinter verschlossenen
Türen. Was darf gesehen und gewußt werden? Von der Frauenbewegung der
1970er Jahre habe ich vor allem diesen Satz stets präsent: Das Private
ist politisch. Es war mir damals ein wichtiger Denkanstoß, als ich
verstehen wollte, was Demokratie bedeutet und wie sich jene Gesellschaft
organisiert, der ich mich zugehörig fühle.
Es beginnt. Es endet.
Dazwischen versuche ich, über mein Leben zu bestimmen. Dieser Tage: die
jüngste Absprache mit meinem Sohn, weil das einen Punkt berührt, wo mein
Nachdenken schließlich ebenso endet wie meine Verantwortung: die letzten
Dinge. Wir haben dazu gelacht, aber es war ernst gemeint.
Bis
Gabriel mich verscharren muß, bin ich selbst für alles zuständig. Dann
aber gilt: Ihr steckt mich in keinen Anzug! Ich kann diese Fetzen nicht
leiden. Eine Trauerfeier ist strikt ausgeschlossen. Es soll ein Fest
ein, denn mein Leben hat sich gelohnt. Das ist jetzt schon geklärt.
Ich werde ab heute natürlich vergnügt jeden Bonus akzeptieren.
Weitere 20, 50, 80 Jahre sollten mir recht sein. Wir sind gerade
weltweit in einem so radikalen Umbruch, da würde ich zu gerne erfahren,
wohin diese Reise führt. In meinem vertrauten Milieu finde ich
diesbezüglich zu wenig Phantasie, wenig Anregendes.
Gut, ich
verlaß mich einfach auf die Jungen, denen zu ihrer Zukunft ja was
einfallen muß, weil sie sonst keine haben. Nina, die Lebhafte, hat heute
Geburtstag. Eben noch ein quirliges Kleinkind, nun eine wachen junge
Frau voller Tatendrang.
Mir war vor vielen Jahren schon klar,
womit bei ihr zu rechnen sei, als sie in einer strengen
Verhandlungssache an mir hochsah, grinste und sagte: „Was kann ich
dafür, daß ich gescheit bin?“
Richtig! Das kann man niemandem
vorwerfen. Kommt aber vor. John Lennon sang in „Working Class Hero“
(1970) treffend: „They hate you if you're clever and they despise a
fool“. Aber ergibt das Sinn? Freilich!
Nachdem ich es in weiten
Bereichen für abgeschafft hielt, fällt mir ein alter Modus neu auf:
„Protektion geht vor Kompetenz“. Wo selbstrekrutierende Eliten
leistungsfähige Netzwerke bilden, brauchen sie keine klugen Leute
außerhalb ihrer Hierarchien. Sie brauchen aber auch keine Deppen, weil
sonst viele notwendige Arbeiten nicht gut erledigt werden können.
Ein Dilemma? Nicht unbedingt. Lennons Liedpassage ist im Kontext
aufschlußreich: „They hurt you at home and they hit you at school / They
hate you if you're clever and they despise a fool / Till you're so
fucking crazy you can't follow their rules“. Und dann kommt der
Gnadenstand.
Das meint: wenn man jemanden gefügig machen will,
muß man sie oder ihn konfus machen. Sobald wer nicht mehr genau weiß, ob
das eigene Verhalten regelkonform ist, entfällt die Möglichkeit, sich
auf eine berechtigten Anspruch zu berufen. Dann kann jemand höher in der
Hierarchie Gnade oder Strenge walten lassen, kann sich Willkür erlauben.
(Gnadenstand statt Rechtsanspruch.)
Ja, klar, aber! Doch nicht in
unseren Kreisen! Ha! Genau da genau so! Das Kulturvölkchen ist in diesen
Dingen keine prinzipielle Ausnahme. Es bleibt dabei stets individuell
unterscheidbar, wie jemand mit Verfügungsgewalt umgeht.
Als
Lennon diesen Song herausbrachte, war ich 14. Das Alter, in dem man
erstens verschiedenen Arten der Gewalttätigkeit endlich nicht mehr
hilflos ausgesetzt ist und zweitens seinen Verstand so weit geschult
haben kann, daß eine Reflexion der eigenen Bedingungen gelingt.
Historisch betrachtet gelten Buben mit 15 als im wehrfähigen Alter.
Zwischen 14 und 17 hatte ich an Körperkraft permanent zugelegt, konnte
schon treffsicher schießen und hatte einen scharfen Verstand zur
Verfügung. Das war mir sehr willkommen, um einige Ungelegenheiten
verläßlich abzustellen.
Das ist eine Disposition, die Fragen
aufwirft, welche Weichenstellung man sucht, in welche Richtung es mit
den gewonnen Möglichkeiten weitergehen soll…
-- [Bourgeoisie]
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