9. Juli 2020
Ist all das Gezänk bloß
aus meinen Informationskanälen verschwunden oder insgesamt abgeebbt?
Längst werden mir nicht täglich Expertenmeinungen aufgedrängt, deren
Expertise ich kaum prüfen kann. Gut, jene Leute, die mit
Heilsversprechen und „bedeutenden Wahrheiten“ hausierten, hab ich selbst
zügig aus meinem Blickfeld geschafft.
Ich lausche, was in mir an Wirkungen dieser
Monate deutlich werden will. Das ist nichts, um es auszuposaunen. Aber
das Grundsätzlichere dahinter interessiert mich, in dem wir alle
angekommen sind. Das Fragile und das Widersprüchliche. Das
Unvorhersehbare.
Vor einigen Monaten sprach ich mit jemandem über
die Betreuung von Alzheimer-Kranken. Dabei erfuhr ich fasziniert, daß es
Stadien gibt, in denen Kranke ein anderes Alter ihrer Biographie leben.
Kind, junger Mensch, was auch immer. Das bedeutet, egal was wir erlebt
haben, es bleibt alles in uns verwahrt.
Damit verstand ich auch
den Zustand meiner Mutter, als ich sie das letzte Mal gesehen hab. Sie
war kindlich. Man konnte sie zum Beispiel im spielerischen Streit um ein
weißes Tuch zum Lachen bringen, wie kleine Kinder in Gelächter fallen,
wenn man sie mit Blödsinnen unterhält.
Aber nun hab ich im Zusammenhang mit der Corona-Krise etwas noch viel
Merkwürdigeres erfahren. Ich bin noch ganz gebannt von der Information,
daß es innerhalb von rund zehn Jahren nach der Spanischen Grippe
(1918 bis 1920) eine auffallende Pandemie der neurologischen Symptome
gab, die schließlich in einem kausalen Zusammenhang gesehen wurde.
Da wird die Encephalitis lethargica genannt, die in Europa vor allem
zwischen 1915 und 1927 festgestellt wurde, aber noch bis etwa 1950
vorkam. Sie heißt auch Europäische Schlafkrankheit oder
Encephalitis Vienna.
Nein, ich will sie damit nicht
beunruhigen, sondern bloß mein fassungsloses Staunen ausdrücken. „Die
Patienten litten unter gelähmten Augen oder Gliedmaßen,
Bewusstseinsstörungen und einer starken Schläfrigkeit. Wer dem Leiden
nicht sofort erlag, entwickelte nach einer Phase der Genesung oft
chronische, parkinsonähnliche Symptome.“ [Spektrum
der Wissenschaft]
Das kann man nicht besser erfinden. Ich war als junger Kerl von den
Fallschilderungen begeistert, die Oliver Sacks publiziert hatte.
„Der Tag, an dem mein Bein fortging.“ oder „Der Mann, der seine
Frau mit einem Hut verwechselte.“
Diese Bücher gaben mir
eine Vorstellung, daß schon kleine Abweichungen in unserer Körperchemie
oder Körpertemperatur uns in eine vollkommen andere Wahrnehmung
schmeißen können, daß man dabei sogar im Spüren des eigenen Körpers
fragmentiert werden kann.
Das hatte sich irgendwie mit einer
Erinnerung verbunden, als ich den Konstruktivisten Heinz von Foerster
bei einer Veranstaltung sah, wo er im enormen Publikumsandrang auf einen
Sessel steigen mußte, um noch gesehen zu werden. Von diesem Sessel aus
seine unvergeßlichen Worte: „Das Gehirn bildet nicht ab!“
Das meint, wir konstruieren eine Vorstellung von der Welt, indem wir
die Signale deuten, welche uns die Sinnesorgane liefern. Mit all dem
möchte ich ausdrücken: wir sind sehr verletzlich und was immer
geschieht, es ist in uns so langlebig und wirksam. Wir sollten
eigentlich miteinander sehr achtsam umgehen. |