22. Juni 2020
Eben noch diese Sommerluft, mild wie Vanillecreme, aber gestern mit
Wollsocken im Büro. Dazwischen etwas Regen, dem ich mich auf Kinderart
ausgesetzt hab, denn ich mag es sehr, wenn so feines Nieseln sich
langsam in meinen Haaren setzt, durchsickert.
Heute mußte ich
kurz vors Haus gehen, um zu erkunden, welches Gewand für den Weg in die
Stadt passend sei, denn davor hatte der Wind an den Fensterläden
gerüttelt, als wollte er ein Sturm sein. Auf den bloßen Augenschein hin
hätte ich mich zu dick angezogen. Es ist nun wärmer als ich dachte.
Ich genieße diese Kontraste, weil sie mir
helfen, meinen Bunker-Groove abzuschütteln, dieses Verschlossene an mir,
das sich schon vor dem Lockdown eingenistet hatte. Unabhängig davon
stand nie in Frage, wie gerne ich mit Menschen bin. Aber manchmal
erschöpft sich das schnell.
Ich ackere gerade weiter in
Archivalien, unter denen viele Blätter sind, die noch nirgends
veröffentlicht wurden. Was für ein Vergnügen, wenn sich so größere
Bilder Stück für Stück vervollständigen.
So etwa dieses alte,
makellose Typenblatt vom Puch Alpenwagen mit einer
Originalfotografie. Ich kenne Reproduktionen des Fotos, aber das
komplette Datenblatt kam bisher in keiner Publikation vor. Vielen
Menschen leuchtet nicht ein, wie ich mich über etwas derart freuen kann,
das nicht mir gehört, sondern bloß durch meine Hände geht.
Datenblatt aus dem Archiv Lanner
Dabei übersieht man leicht, daß uns alles bloß durch
die Hände geht, denn so viele glanzvolle Dinge, darunter auch die sehr
teuren, halten länger als eines Menschen Leben. Und jeder Depp würde
bestätigen: Du kannst es nicht mitnehmen.
Aber Leute, denen das
unklar ist, interessieren mich nicht. Ich gehöre zur Gilde jener, die
ganz ohne Zunftordnung in anderen Zusammenhängen leben. Oft ist es ein
Klang der mich fesselt. Wie das slowenische Wort „Strah“, das
„Strach“ gesprochen wird. Zu all dem Schwebenden, nicht
Greifbaren, paßt ein Gedicht von Rezka Kanzian:
nimm es in
die offene hand und beobachte betrachte genau nimm nichts weg
und gib nichts dazu sei nur ein auge ohne fleisch und blut die
angst im bild nur ein wort ohne rahmen
Der Text stammt aus dem zweisprachigen Lyrikband „ANGST_STRAH“,
der als traditionelles Buch erhältlich ist, aber auch als PDF-Datei frei
verfügbar.
Dieses „Strah“ hat mich an eine bosnische
Formulierung erinnert, die sich mir eingeprägte, als ich neben Muhidin
Saric vor Publikum gesessen hatte und die deutschen Fassungen jener
Gedichte las, mit denen er sein Überleben von Todes-Camps wie Keraterm
und Trnopolje beschrieb: „Gust Mrak“; im Klang wie Muhidin es
ausgesprochen hatte. Die dicke, undurchdringliche Finsternis.
Für mich lag damals nahe, das würde dem entsprechen, was Joseph Conrad
als „Herz der Finsternis“ beschrieben hat. Es ist jene
Dimension, in der die Angst (Strah) alle Konturen verloren hat. Was aber
bedeutend bleibt: manche kommen von dort zurück. Sie erzählen davon. Es
trägt bei, den Schrecken zu bannen.
Das verbinde ich übrigens mit
den bosnischen Worten „Sabah Zora“. Die Morgenröte. Ein Lied beginnt so:
„Sabah zora zivom bojom…“. Der Morgen dämmert in lebendigen Farben…
Ich
erwähne das, weil ich in den letzten hundert Tagen so oft gehört und
gelesen hab, ohne Kunst werde es still sein. Ich weiß es besser. Die
Kunst schweigt nie, egal, was Menschen einander antun.
-- [Die
Novelle] -- |