8. Juni 2020

Vorgestern hab ich meine letzte Tele-Drink-Session abgehalten. Nun braucht es eine andere Geste. Inzwischen ist geklärt, daß eine Krise auch ihre Momente als Fest hat. Mit diesem Anliegen bin ich nicht allein geblieben. Mir scheint, es ist auch eine Frage der Selbstachtung, nach Gelassenheit und Freude zu suchen, gerade wenn es sich nicht leicht ergibt.

Die Krisis ist übrigens nicht die Katastrophe, sondern ein markanter Höhepunkt in einem kritischen Prozeß. Demnach sollten wir dafür sorgen können, daß wir die Pandemie als eine Krise gestalten und uns nicht in eine Katastrophe stürzen lassen. (Zugegeben, da ich nur für mich sorgen muß, ist das viel leichter als in anderen Settings.)

Sie meinen, das sei Wortklauberei? Wenn sie beachten, wie viele ganz konkrete Machtansprüche sich auf Worte stützen, die über individuelle Deutungen als Legitimation benutzt werden, könnte so eine Präzisierung in anderem Licht erscheinen.

Diese Unterscheidung hilft mir beim Orientieren: Die Krise ist der Prozeß, die Katastrophe tritt ein, wenn der Prozeß völlig schiefgeht. Freilich mag ich Metaphern. Ich verstehe die Pandemie als Lawine. Du reitest sie oder sie verschlingt Dich. Irgendwann verebbt sie, dann sehen wir einander anders an, zählen die Toten, ordnen unsere Angelegenheit neu.

Es könnte übrigens sein, daß die Corona-Pandemie uns ihre Relevanz nicht hauptsächlich durch die Toten mitteilt, die wir bis heute zu beklagen haben, sondern durch das Potential, weite Gebiete der Erde auszutöten.

Da mich, uns alle, das Virus nicht aus eigener Kraft angreifen kann, müßte klar sein, wie unsere Verhaltensweisen, unser Umgang miteinander, die Pandemie ergeben. Wer mich heute anbrüllt, wie viel mehr Tote diese und jene Seuche gebracht habe, ohne daß Länder in den Lockdown gegangen wären, belästigt mich mit „Malen nach Zahlen“. Solche polemischen Anflüge interessieren mich nicht. Derlei Behauptungen haben keine Aussagekraft.


Zur Anschauung. Hier gibt es im Web eine kleine Body Count-Maschine: Global Deaths Due to Various Causes and COVID-19 (By Tony Nickonchuk). Versuchen Sie Ihr Glück, um daraus praktischen Nutzen zu ziehen. Was wissen Sie denn nach einem Blick auf diese Liste? Ich sag es Ihnen: nichts! Sie wissen gar nichts, außer, daß Menschen auf viele Arten aus dem Leben gerissen werden.

Wie erwähnt, ich sehe das Problem derzeit nicht in einer absoluten Zahl Toter, die an oder mit Covid-19 gestorben sind, denn das sind bei uns vorerst Todeszahlen, mit denen diese Gesellschaft schon bisher zurechtkommen konnte.

Ich finde das Potential sehr bedrohlich. Was also geschehen kann, wenn wir alle die Verbreitung der Viren so begünstigen, wie es mancherorts geschehen ist. Gut, die Erde wird uns nicht vermissen, falls wir zu dumm sein sollten, mit dieser Bedrohung angemessen umzugehen.

Eben endete die 12. Woche Lockdown. Wir durften allein schon auf nationaler Ebene erleben, daß sich in einer Gesellschaft schlagartig massive Bruchlinien auftun. Solidarisches Handeln? Verteilungsgerechtigkeit statt Verdrängungswettkampf? Kompetenter Umgang mit Nichtwissen und eine fruchtbarer Fehlerkultur? Da haben wir noch reichlich Arbeit vor uns.

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