20. Mai 2020
Mit Mai-Beginn war ich
im Lockdown erstmals wieder bei einem befreundeten Paar zu
Besuch. Es wurde gekocht, es kam ein wunderbares Essen auf
den Tisch. Wir haben getrunken, das Leben durchgenommen, auf
räumlichen Abstand geachtet. Zum Abschied wurde ich spontan
umarmt. Es war eine Berührung, die Zuneigung und Zuversicht
ausgedrückt hat.
Eine Weile später war ich bei einem anderen Paar zu Gast. Wir
haben gemeinsam gekocht und dabei einen paradox scheinenden
Umgang gepflegt. Einerseits blieben wir distanziert, unterließen
Berührungen. Andrerseits bewegten wir uns nahe aneinander in der
Küche und gönnten uns ein Stück ausdrücklicher Sorglosigkeit.
Man könnte sagen, wie haben zugleich beide Optionen bedient,
das Abstandhalten und den vertrauten Umgang miteinander. Wir
genossen hinterher Stunden im Garten mit Gesprächen bei einem
ausgedehnten Essen, wobei etliche Flaschen Wein auf der Strecke
blieben.
Freilich widerspricht beides in einigen Momenten
dem Modus, den ich nun die zehnte Woche einhalte. Vergangenen
Montag ging ich durch die Stadt, um die Wärme der Sonne
aufzusaugen und um einen Eindruck zu bekommen, was sich auf den
Straßen tut, Eben waren die Regeln für den Lockdown revidiert
worden und die Menschen haben übers Wochenende sofort stark
darauf reagiert.
Beim Überqueren eines Parkplatzes stieg
ein Gleisdorfer Kulturschaffender, den ich sehr schätze, aus
seinem Auto, um mich zu begrüßen. Er stand in verstaubter
Kleidung vor mir, was erkennen ließ, daß er gerade mit baulichen
Dingen befaßt war. Als wir einander gegenüberstanden, ruderte er
kurz mit den Armen und sagte: „Ich weiß jetzt nicht, wie du
es gerade damit hältst.“ Ich streckte meine Hand hin,
worauf er sie ergriff.
Nein, das ist kein Aufruf, das Distanzhalten aufzugeben,
denn wir stehen immer noch unter einer unsichtbaren
Bedrohung. Sie ist sinnlich nicht erfahrbar, wenn man mit
ihr in Kontakt kommt. Mir ist völlig klar, daß die
Wahrscheinlichkeit, hier in der Provinz im Vorbeigehen
infiziert zu werden, sich nahe Null bewegt.
Das nimmt
nichts von der realen Bedrohung, denn niemand kann sagen,
auf welchen Wegen das Virus gerade weitergereicht wurde. So
ist das Wesen dieser Pandemie, daß wir nicht wissen können,
wo sie einen allenfalls erreicht. Es verlangt diese
besondere Kulturleistung der Abstraktion, sich
dennoch sehr vorsichtig zu verhalten und weiterhin einige
Regeln zu beachten, die der Verbreitung von Covid-19
entgegenwirken.
Dazu stehe ich aus rationalen
Gründen. Es erscheint mir plausibel und was ich bisher an
Wissen über die Pandemie gewinnen konnte, bestärkt mich in
dieser Vorsicht. Aber ich bin auch ein emotionales Wesen und
erlaube meiner Vernunft keine Alleinherrschaft.
Ich
bin auf der Hut und werde es noch eine Weile bleiben. Doch
Zuneigung und Zuversicht lassen sich in meiner Welt durch
nichts so verläßlich ausdrücken und mitteilen, wie durch
eine körperliche Berührung.
Auch das ist ein hohes
Gut, dem ich wenigstens ein Mindestes an Raum in meinem
Dasein gesichert wissen will, ganz egal, wie die Dinge in
der Welt liegen. Darüber entscheide ich und sonst niemand.
Das gestalte ich nach meinen Vorstellungen. Das gehört zu
meiner Auffassung von Selbstverantwortung.
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