6. Mai 2020
Zugegeben, ich bin
derzeit merklich reizbarer, in manchen Momenten viel
unleidlicher als sonst. Das hat eine Mischung an Gründen.
Beschweren kann ich mich allerdings nicht. Meine
Rahmenbedingungen für die erste Phase dieser Seuche sind so,
daß man eine Menge daraus machen kann.
Dieser
Lockdown ist sicher meine radikalste Netzkultur-Erfahrung,
seit ich online gehe; und das begann in meinem Fall schon in
den 1980er Jahren. Das heißt, ich hab das Entstehen einer
völlig neuen, weltumfassenden Info-Sphäre von Beginn an
miterlebt. (Wir sprachen damals von Neuen Medien und von
Medienkonvergenz.)
Für meine Lebenssituation ist völlig klar: ohne den Webzugang
und die Telepräsenz wäre mir das alles sehr viel schwerer. Es
läuft derzeit die achte Lockdown-Woche und die Online-Situation
hilft mir bei der Gestaltung dieser Tage enorm.
Zugleich
liefert sie mir aber eine kurioses Pendant zum Kino-Ereignis
Zombie-Apokalypse ins Haus. Wie in unzähligen Streifen Horden
von Untoten herumlaufen und sich nach Frischfleisch umtun,
vermehren sich derzeit Deppen-Horden. Da wird mit Gerüchten,
Spekulationen und Behauptung agiert, daß sich die Balken biegen.
„Bitte ansehen und weiterleiten!“ Mit solchen und
ähnlichen Empfehlungen erhalte ich dummdreiste Zusendungen.
Vieles an grassierenden Botschaften ist ohne Quellenangabe oder
hat eine offenkundig sehr dubiose Quelle.
Halbgares und
„Geheimes“, Bessergewußtes wird mir da angedient. Dabei plündern
derlei Wichtigtuer bedenkenlos verschiedene Kulturen und
zeitgeschichtliche Faktenlagen. Da haut es mir gelegentlich die
Schindeln vom Dach und die Contenance aus dem Herzen. (Ich bin
ja emotional nicht immer in Bestform.)
Heute bei Sandra Kreisler auf
Facebook ;-)
Dann unterstreicht mir so ein depperter Trampel (dem ich
schon ansehe: von Zeitgeschichte keinen Tau) seinen privaten
Obskurantismus mit den Worten „Wehret den Anfängen!“,
was mich derart aus der Fassung bringen kann, daß ich dieses
aufgeregte Wesen anbrüllen möchte: Genau so macht man
sich ja zum Wasserträger präfaschistischer Verhältnisse, du
dumme Nuß! Genau das SIND doch die Anfänge!
Dieser strunzdumme Obskurantismus. Dieses Schlechtreden der
Demokratie bei gleichzeitigem Verzicht darauf, seine eigene
Gründe zu nennen und Quellen anzuführen. Wenn ich jemanden
kritisiere, dann nenne ich das konkrete Verhalten, die
konkrete Aussage der Person, und trage meine Kritik vor.
Aber allgemeines Anschütten?
Wer verbreitet, unsere
„Regierung“ (von der Absenderin unter Anführungszeichen
gesetzt) sei „nicht ganz so verbrecherisch wie die
Deutsche“ (Zitat), ohne diese schwere Anschuldigung
auch nur irgendwie zu belegen, betreibt das Geschäft des
Faschismus in der ersten Ausbaustufe, macht sich selbst zum
Dienstboten des Leviathan.
Wer mich also schon Jahre
kennt und mir so einen Dreck mailt, ganz im Gefühl, mir
etwas Gutes zu tun, richtet mir damit auch aus: „Wir kennen
uns zwar, aber ich hab eigentlich keinen Tau, wer du bist
und was dich ausmacht, das ist mir auch völlig egal,
Hauptsache du hörst mir zu!“
Das Video, mit dem ich
unter dem Hinweis „Wehret den Anfängen!“ beschickt
wurde, bietet übrigens eine halbe Stunde Geschwafel von Ken
Jebsen alias KenFM, der sich übrigens schon als „Nazi-Flüsterer“
etikettieren lassen mußte. Wer so eine Kanaille als
ernsthafte Quelle versteht und das auch noch promotet, pißt
auf die Demokratie.
Kritischer Diskurs und
Wissensgewinn funktionieren anders. Das wissen wir nicht
erst seit der Aufklärung, das ist schon seit dem
Mittelalter, welches geistig keineswegs dunkel war, geklärt.
Aber wenn man von all dem keine Ahnung hat, weil es einen
noch nie interessiert hat, muß man eben Deppenpost
verfassen, die keiner Quellenprüfung standhält.
-- [Lockdown] -- |