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					3. Mai 2020
 Ich hab ein tiefes 
					Interesse am Entlegenen. Wohin reicht die Conditio 
					humana? Was sind ihre Fundamente? Was sind ihre 
					konstituierenden Details? Wo beginnen die letzten Dinge? Es 
					ist einige Jahre her, da bin ich in eine verstörende 
					Erfahrung gefallen.
 
 Nach notwendigen Tagen auf einer 
					Intensivstation mußte ich gewissermaßen durch einen Ozean 
					verschiedener Realitätskonzepte in diese Welt 
					zurückschwimmen. In diesem Dahintreiben, in einer 
					merkwürdigen Kälte, wobei mich sachkundige Menschen 
					begleitet habe, konnte ich in einer wichtigen Frage keine 
					Klarheit finden: Habe ich das überlebt?
 
				 
				Ich war etliche Zeit von diesem Problem völlig vereinnahmt. Wie 
				kann ich sicher sein, daß das nicht die letzten Augenblicke 
				meines Lebens sind, welches gerade endet, verlöscht? Auf 
				merkwürdige Art hat mich das dann rund ein Jahrzehnt begleitet: 
				mir meines Lebens und meines Platzes in der Welt nicht sicher zu 
				sein.
 Dadurch hab ich begriffen, daß Leben unter anderem 
				bedeutet, sich in diesem Punkt nicht angefochten, nicht unsicher 
				fühlen zu müssen. Ein mächtiges Geschenk, das einem entrissen 
				werden kann.
 
 Damit sind andrerseits Erfahrungen berührt, 
				die den Körper betreffen, der in einem atemberaubenden 
				Fließgleichgewicht seine Lebendigkeit verwaltet. Darüber kann 
				ich mich gar nicht genug wundern. Diese Belastbarkeit und 
				Stabilität. Unfaßbar, welche Schläge ein Leib ertragen kann.
 
 Was das im Herzen anrichtet, ist eine ganz andere 
				Geschichte. Wo all das zusammenläuft, läßt sich auf jeden Fall 
				sagen: Um in der Welt zu sein, brauchen wir unseren Leib. Das 
				ist mit einem hohen Preis beschriftet. Physischer Schmerz wohnt 
				in einem Imperium von enormen Dimensionen.
 
 Ich war einige 
				Male Reisender in diesem Reich, auf ausgedehnten Touren 
				unterwegs. Diese Reiserfahrungen sorgen für ein Repertoire an 
				Reminiszenzen, mit denen sich nächste Vorfälle auf eine sehr 
				vertrauliche Art absolvieren lassen.
 
				 
					
					Zwei Dinge kann ich über den Schmerz auf jeden Fall 
					feststellen: 1) Wir fürchten ihn zu Recht. 2) Man erlernt 
					den Umgang damit nur in der realen Begegnung, auf keine 
					andere Art.
 Das beschäftigt mich gerade, weil ich am 
					ersten Mai auf einer meiner Routen war und durch eine dumme 
					Unachtsamkeit schwer gestürzt bin. Ein Rendezvous mit 
					vertrauten Abläufen. Zweierlei, das stets Vorrang hatte, 
					entfällt aus meiner Zeit mit den Motorrädern, einer 
					wichtigen Lehrzeit: Benzinhahn schließen, Zündung 
					abschalten.
 
 Nächster Punkt: wie tief sind die 
					blutenden Stellen? Dann Aufstehen und ein Gehversuch. Sind 
					die Beine belastbar, ist die Wahrscheinlichkeit einen Arzt 
					zu brauchen auf die Hälfte runter. Danach dieses Lauschen: 
					was sagt der Schmerz? Wo flüstert, wo singt und wo brüllt 
					er?
 
 Wer dann noch selbst nach Hause gehen kann, weiß: 
					die Nacht wird Scheiße, der nächste Tag bringt Klarheit. 
					Irgendwann dazwischen setzen Reaktionen ein wie zum Beispiel 
					ein Zähneklappern, als säße man in seiner Unterwäsche im 
					Schnee.
 
 Das sind extrem intime Situationen eines 
					radikalen Dialoges meines Körpers mit meinen anderen 
					Instanzen. Nein, weder kann man das genießen, noch wird man 
					es suchen. Aber ich mag die Radikalität solcher 
					Plauderstündchen in einer archaischen Sprache, die einen 
					abschnittweise in Schrecken versetzt.
 
 Post Scriptum:
 Es gibt von mir ein kleines Gesellenstück zu diesem Thema, 
					das vor Jahren eine Einleutung im Buch „Schmerz: wie 
					können wir damit umgehen?“ von Monika Specht-Tomann 
					wurde. Zur Neufassung dieses Buches befinden sich dessen 
					erste 18 Seiten, auf denen auch mein Text vorkommt, als PDF 
					im Web: [link]
 
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