29. April 2020
Dieses Jetzt ist anders
Manchmal sitze
ich in meiner beneidenswerten und gelegentlich bedrückenden
Stille mit einem brüllenden Gefühl der Ratlosigkeit. Ich bin von
solchen Zuständen gebannt, weil es endlich keine Ausreden mehr
gibt. Wer jetzt sich und andere hinters Licht führt, geht ein
sehr hohes Risiko ein, von den Konsequenzen auch selbst
getroffen zu werden.
Wer sich jetzt wichtig macht und die
Welt zu erklären versucht, ist lächerlich. Wir müssen laufend
verhandeln, was wir zu wissen glauben, müssen dessen Wirkungen
im Handeln beachten; eine sehr anspruchsvolle Bedingung.
Was erleben wir, da eine ganze Gesellschaft herausgefordert
wurde, über einen längeren Zeitraum sehr achtsam zu sein? Sehen
wir die Wegelagerer, von denen dieser Zustand mißbraucht wird?
Vermögen wir die Moraltrompeterei abzustellen, die bloß
Ablenkung ist?
Manchmal zerspringe ich fast vor Neugier,
welche Klarheiten hinter dem nächsten Horizont liegen mögen.
Jegliche Sprücheklopferei dröhnt mit ihrem hohlen Klangbild in
den Ohren. Ich möchte Gewißheit, hab stattdessen die Sicherheit,
daß es sie im Moment nicht gibt. Nirgends. Um nichts.
Ich
halte das aber nicht für die schlechte Nachricht, sondern für
die Einladung zu einer radikalen Erfahrung. Dieser jetzige
Zustand fordert die Selbstverantwortung heraus. Ich kann meine
Tage gerade nur durch das absichern, was ich schon weiß, was
sich bisher bewährt hat. Ich muß dabei vorsichtig genug sein, um
dem Unbekannten begegnen zu können, ohne darin unterzugehen.
Als ferne Vorfahren die Bäume verließen und in die Savanne
gingen, mußten sie sich anfangs ungewohnt aufrecht bewegen und
neue Strategien erdenken, erproben, um ihren Gewinn an Raum und
Zukunft zu überleben.
Wir durchlaufen immer wieder solche
Erfahrungsangebote. Ich darf einen speziellen Vorteil genießen.
In der Kunstpraxis ist genau das unausweichlich, unverzichtbar,
da man sonst im Dekorationsgeschäft landet. Mir ist das Prinzip
bestens vertraut.
Zugegeben, das macht mir die
augenblickliche Situation mit ihren Ungewißheiten und der akuten
Bedrohung meiner wirtschaftlichen Situation etwas leichter als
vielen anderen Menschen, denn ich bin darin geübt.
Ich
kenne das und weiß, wie die einzelnen Passagen solcher Touren zu
fahren sind. Ich weiß auch, was im Detail geschieht, wenn man
gegen eine Wand knallt. Da braucht man dann alle verfügbare
Kraft. (Aufregung darüber ist eine Vergeudung von Ressourcen.)
Solche Kenntnisse machen es mir jetzt keineswegs angenehmer,
ersparen mir auch keine Momente der Verzweiflung. Aber es hilft,
diesen speziellen Punkt zu akzeptieren: Endlich ratlos! Endlich
nicht mehr voller Vorkenntnisse, die einem oft den Blick auf
neue Möglichkeiten verstellen, denn dieses Jetzt ist anders.
Post Scriptum: Ich halte genau das auch für den wichtigen
Angelpunkt einer
nächsten Kulturpolitik
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