22. Februar 2020

Es ist Jahrzehnte her, da saß ich mit einem etwa fünfjährigen Mädchen an einem Tisch des Grazer Café Harrach. Während sein Vater in ein Gespräch vertieft war, befragte mich das Kind: was ist dies und was ist das und wie geht sowas?

Ich hab alle verfügbaren Servietten vollgekritzelt und das mit Antworten begleitet. Solche Situationen sind vorteilhaft, weil sie einen dazu bringen, eigene Ansichten zu überprüfen. Es kam ein Moment, da sah die Kleine zu mir hoch und fragte: „Was gibt es noch auf der Welt?“ Klar, daß wir uns gut verstanden, denn ich denke das bis heute auch dauernd. Was gibt es noch auf der Welt?

Viele Jahre später fand ich mich erneut in einer Debatte mit einem etwa fünfjährigen Mädchen. Die Kleine wollte etwas, dem ich mich erst verweigerte. Aber sie verhandelte so gut, daß ich schließlich lachend aufgab und sie bekam ihren Willen. Dann sah sie an mir hoch, grinste und sagte: „Was kann ich dafür, daß ich gescheit bin?“

Ich erzähle das, weil sich derzeit zwei Lager in zunehmend härterem Kontrast zeigen. In einem steht die unersättliche Wißbegier, im andere tummeln sich Leute, denen genau das auf die Nerven geht. (Zugegeben, das war jetzt eine polemische Verkürzung.)

Die Mutter der Kleinen, deren Gescheitheit inzwischen nicht abgenommen hat, stammt aus Jugoslawien. Man darf annehmen, daß sie ziemlich smart ist. In diesem untergegangenen Staat gab es seinerzeit Mathematik-Olympiaden. Daran dachte ich kürzlich, als ich Bill Pullman im FilmThe Coldest Game gesehen hab.

Pullman zeigt in einer beeindruckenden Performance den überaus verhaltensoriginellen und genialen Schachmeister Joshua Mansky. Mathematik pur plus einige rätselhafte Talente. Aber zurück ins reale Leben. Die Frau, von der vorhin zu erzählen war, genauer: eine Serbin und hochkarätige Technikerin, hat bei der Mathematikolympiade nicht bloß einmal gesiegt, sondern – sehr ungewöhnlich – zweimal.

Was ich an ihrer Schilderung besonders interessant fand: Man trainiert dafür ganzjährig und dann noch schwerpunktmäßig in Camps. Der Geist, wenn er für besondere Leistungen taugen soll, muß also kräftig ins Zeug gelegt werden.

Nun sollte einigermaßen bekannt sein, daß unser Gehirn kein Muskel ist. Folglich trainiert man es auch nicht wie einen Bizeps. Ich möchte eher annehmen, ganz im Gegenteil ist das eintönige Wiederholen von Übungen Gift für den Geist; und für die Seele. Es zählt nicht umsonst zum Repertoire von Folterpersonal, Menschen zu brechen, indem man sie anstrengende, völlig sinnlose Dinge tun läßt. Der Geiste braucht es raffinierter.

Derzeit hört es sich nach einem Crescendo im rechten politischen Lager an, daß „die Linke“ nicht nur zu Mittelmaß herabgesunken sei, sondern die Gesellschaft mit sich herabziehen würde. Das besagt zum Beispiel ein Essay von Peter Sichrovsky „Über den immer öfter unter linkem Diktat stehenden Diskurs im Kunst- und Kulturbetrieb und an den Universitäten.“ Titel des Textes:Die Diktatur des Mittelmaßes, erschienen im Magazin „Fazit“.

Sichrovsky meint herausgefunden zu haben: „Die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinkt, ist die Meinung vieler Verantwortlichen in den Universitäten. Dahinter stehe eine kleine radikale Minderheit – und eine schweigende Mehrheit.“

Das ist fast schon kanonisierte Lehrmeinung rechter Formationen, wo immer man in internationalen Diskursen nicht standhält. Was Sichrovsky hier vorlegt, ist bloß Kolportage. Hörensagen. Er nennt keine konkrete Quelle. Sowas schwächt einen eben.

Solches Verfahren ist längst am Boulevard angekommen. FPÖ-Exponent Norbert Hofer hatte seine Rede zum 2020er Aschermittwoch mit der Nachricht garniert, daß es eine Diktatur linken Denkens gebe und angeblich jene, die sonst für Toleranz stünden, seinen Leuten gegenüber zunehmen in Intoleranz verfielen.

Es war übrigens der schärfste Gedanke, den Hofer in seiner Rede aufbot, der Rest durfte hauptsächlich aus staunenswerten Plumpheiten bestehen. (Die Rede gehört zu den drei Stunden Mitschnitt, der sich auf Youtube finden läßt.)

Bei Sichrovsky tauchen ähnliche Schlußfolgerungen auf. So schreibt er zum Beispiel: „Letzendes geht es um die banale Methode der Zensur, als Mittel des Verbots, des Verhindern, das in Demokratien überwunden sein sollte.“

Das ist natürlich Mumpitz. Zensur ist ein staatliches System, um Informationsflüsse und Meinungsäußerungen zu kontrollieren. Was heute nicht von einem Staatsapparat organisiert und exekutiert wird, ist weniger denn je der Informations- und Diskurskontrolle ausgesetzt. Wenn ich hier mit einer Ansicht nicht durchkomme, dann eben dort oder anderswo. Am Publizieren kann mich niemand hindern. (Ich denke, das klappt nicht einmal in China oder Nordkorea.)

Was aber Hofer und Sichovrsky implizit beklagen, ist der Umstand, daß Ansichten wie ihre in breiten, womöglich internationalen Diskursen kaum durchzusetzen sind; zumindest nicht bei qualifizierten Minderheiten. Das ist ein wichtiger Aspekt! Qualifizierte Minderheiten.

Gerade die Hofers Europas haben inzwischen quer durchs Land reichlich Zustimmung für alles, was sie ausstreuen. Auf dem Boulevard regieren nicht Daniel Dennett oder Christopher Clarke, kein Gunnar Heinsohn, keine Eva Illouz und keine Connie Palmen.

Auf dem Boulevard regieren Kickl, Strache und Konsorten. Daß Hofer Leute wie Salvini und Co. zu Opfern angeblichen „Meinugsterrors“ umdeutet, ist ein schwacher Witz, zu dem nicht einmal die FPÖ-Leute in der Jahn-Halle auf die Schenkel geklopft haben.

Um kurz zum ersten Teil dieser Notiz zurückzukommen: ein leistungsfähiger Geist will durch ein anregendes geistiges Leben gedeihen, auch gefordert werden. Ich weiß nicht, ob es ab und zu Genies gibt, die auch ohne besonderes geistiges Leben zu derartiger Blüte kommen können. Da das Gehirn kein Muskel ist, will es belebt werden um lebhaft sein zu können.

Manche mögen davon mehr genießen, manche weniger. Das steht einem ja frei. Aber reg dich nicht auf, Herzchen, wenn dein Verstand nur einen Bruchteil dessen mitmacht, was ein anderer Verstand leistet. Komm in die Gänge oder bleib bequem, doch von nichts kommt nichts.

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