Um menschliche Gemeinschaft zu
festigen, nutzen wir Übereinkünfte bezüglich verschiedener
Codes und Konventionen, geben wir Erzählungen weiter, um
daraus größere Narrative herzustellen, einigen wir uns auf
Mythen. Das ist alles stets vieldeutig und verhandelbar,
auch wenn so mancher Schwätzer gerne von „ewigen Werten“
schwafelt.
Ewige Werte sind ja nichts anderes als der
Ausdruck eines Machtanspruches. So versucht jemand, für
seine Position Legitimität herzustellen: „Das war schon
immer so.“ Gerade an solchen Leuten kann man mitunter
feststellen, daß sie von diesem „Ewigen“ recht wenig Ahnung
haben und oft nur die jüngsten Deutungen dessen kennen, von
dem sie sich bestätigt fühlen, aber vom größeren
Zusammenhang keine Ahnung haben.
Das ließe sich kaum
deutlicher darstellen, als am Beispiel eines Politikers, der
mit einem Kreuz in der Hand vor Kameras auftritt, mit dem
Symbol herumwedelt und das „christlich Abendland“ beschwört,
um unsere Kulturgeschichte in einer Kurzfassung für Deppen
auf das Maß zusammenzustutzen, das er sich bei zwei Bier
kurz durchgesehen hat.
Ich bin schon geraume Zeit in
diese Zusammenhänge verstrickt: Europas Mythen und was davon
in unserer aktuellen Politik auftaucht, was davon durch die
Kunstgeschichte geistert, wie sich all das auch in unserem
Alltagsleben zeigen mag.
Ich hab schon mehrfach
erwähnt, daß es vermutlich keiner Renaissance bedarf, keiner
„Wiedergeburt von Werten der Antike“, weil sie nie weg
waren. Es stellt sich eher die Frage, welche aktuellen
Deutungen sich davon gerade durchsetzen, also auch: welche
Interessenslagen regieren?
In meinen Betrachtungen,
worin Volkskultur, Popkultur und Gegenwartskunst verbunden
sein mögen, führen einige Wege unausweichlich quer durch die
griechische Mythologie und deren Adaptionen im alten Rom,
deren Reise durch die Zeiten.
Im 2020er Abschnitt von
„Tesserakt“ bin ich damit beim Teilprojekt „Prometheus
in Ketten“ (Himmelsstürmerei und die Folgen) angelangt. Nach
Ikarus steht nun Prometheus im Fokus. In dem Zusammenhang
fällt auf, daß dabei ein paar kuriose Frauenfiguren in
Erscheinung treten, die schlicht von Männern gemacht sind.
Eine davon, die gewaltige Pandora, habe ich in „Der
gesellige Titan“ schon erwähnt. Sie wird gerne als
Quelle menschlichen Leids erwähnt. Unerwähnt bleibt meist,
daß Zeus sie von Hephaistos anfertigen ließ, um Prometheus
eine reinzuhauen. Sie ist also keine gewachsene Frau,
sondern eine gebaute Männerphantasie. Eine ähnliche
Geschichte zeigt uns ebenso, was ein verzweifelter Mann sich
mitunter selbst einbrockt.
Ovid läßt den Künstler
Pygmalion auf Zypern an seinem Umgang mit zügellosen Frauen
Schaden nehmen. Wie gerne bedauern wir verstörte Männer, die
sich in der Demimonde umtreiben, dabei ruchlosen Frauen in
die Arme fallen, womöglich tagelang den Ausgang nicht finden
können, und so gewiß ganz ohne eigenes Verschulden an der
Weiblichkeit verzweifeln.
Pygmalion überwindet seinen
Kummer, indem er sich eine blendende Frauensfigur aus
Elfenbein schnitzt, eine Statue, in die er sich ob ihrer
Makellosigkeit prompt verliebt. So ergibt es sich, daß er
Göttin Aphrodite eines Tages anfleht, daß seine zukünftige
Frau so sein möge wie diese Statue. Kommt uns das bekannt
vor. So mancher Mann wünscht sich auch heute eine Frau wie
aus dem Baukasten.
Nun stelle ich mir vor, Aphrodite
war sofort klar, hier eine Pfeife vor sich zu haben, einen
von sich selbst ergriffenen Stutzer, der niemals eine
interessante Frau für sich gewinnen wird. Ovid notierte
diesbezüglich, die Natur gebot „Pygmalion ohne Gefährtin
/ Ehlos bleiben, und lang auch teilt' er mit keiner das
Lager“. Das sind schlechte Referenzen.
„In
Entzücken verloren, / Fasst zu dem scheinbaren Leib
Pygmalion glühende Liebe“, heißt es schließlich.
„Oft legt prüfend die Hand er daran, ob Leib das Gebilde“.
Mehr noch: „Küsse auch gibt er und glaubt sie erwidert und
spricht und umarmt sie, / Wähnt gar, dass sich die Haut den
berührenden Fingern bequeme…“ (Das wird heute vom
Versandhandel angeboten.)
Aphrodite löst das Problem
pragmatisch, will diesen Pygmalion keiner Menschenfrau
anhängen, erweckt die Statue zum Leben. Sie sehen, an der
Conditio humana überdauert so manche Schrulle Jahrtausende.
- [Prometheus
in Ketten] -