30. Dezember 2019

Ömpörung!

Das ist ja unerhört! Wer hat sich heute noch nicht echauffiert? Wer hat sich noch nicht ömpört? Kann sein, daß ich mich mäßigen sollte. Man verdirbt es sich so leicht mit Menschen. Aber was soll ich denn machen, wenn ich zum Spielball meiner Ömpörung werde?

Kürzlich habe ich auf Facebook darüber geschrieben, daß mir allerhand Geschehen rund um die Handke-Kontroverse so schmerzlich verdeutlicht, wie eine boomende Spießerkultur nun auch schon mein nächstes Umfeld kontaminiert hat. Prompt meldete sich ein alter Freund, der diesen Aspekt ignorierte, mir dafür seine schlampige Handke-Exegese aufdrängte, wobei er gleich einige Belege für die erwähnte Spießerkultur abgab. (Zack! Weg war er, als ich depperte Kolportage einfach depperte Kolportage nannte.)

Derzeit denke ich oft über diese mächtige Tendenz zur Ömpörung nach, die dazu führt, daß sich viele Erregte nicht mehr zu Sachargumenten herablassen, auch den Unterschied zwischen Argumenten zu Person und Argumenten zur Sache völlig ignorieren, um ganz offensichtlich ihre Emotionen zum Hauptgegenstand der Geselligkeit zu machen.

Notre Dame. Ibiza. Handke. Nun ein Kinderchor. (Dieses unerhebliche Liedchen mit der Textzeile „Meine Oma ist 'ne alte Umweltsau“.) Was für ein Jahr! Was für ein Gezänk und Getöse!

Es wirkt alles ein wenig so, als hätte es Frank Zappa nie gegeben und als wäre Lemmy Kilmister eine Erfindung von Comic-Zeichner Chris Scheuer. Ich bin von wenigstens den letzten drei Jahren noch etwas verstört. Es fühlt sich an, als wäre ich mit zu hohem Tempo in den Graben gefahren, würde nun irritiert zur Straße hinaufblicken, wäre äußerst verunsichert, ob ich dorthin zurück möchte.

Ich bin zunehmend überzeugt, diese anschwellende, weit um sich greifende Ömpörung hat eine Hauptfunktion, die darin liegt, das Nachdenken über die tiefgreifenden Umbrüche der Gegenwart auf später zu verschieben. Aber wer weiß!

Ich hätte auch nicht gedacht, daß seicht gehaltene Kalenderblätter auf elektronischem Weg als Memes in mein Umfeld zurückkämen, bloß diesmal mit jeder Menge gefälschter Zitate, weil die kulturbeflissenen Schnarchnasen in meiner Hörweite ihre Kulturbeflissenheit bloß noch simulieren und daher ganz arglos auf erbauliche Worte von Kafka, Goethe oder des Dalai Lama zugreifen, ohne ein Gefühl zu haben, daß es in diesem und jenem Tonfall eher nicht aus den genannten Quellen stammen dürfte.

Dann paßt es mir also vorerst in meinem Graben, in dieser Tiefe des Unaufgeräumten. Schweigen kann unglaublich wohltuend sein…

[Eine Facebook-Notiz]

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